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Buchcover Merjem

Susanne Schmidt
Merjem

Mit Förderung von Litrix.de auf Arabisch erschienen.

Ein Mädchen versteckt sich

Susanne Schmidts Kinderroman „Merjem" erzählt vom Leben eines albanischen Flüchtlingsmädchen, das der nächtlichen Abschiebung der Eltern entrinnen konnte.

Was für eine Horrorvorstellung! Eines Nachts, in den stillen Stunden vor Anbruch der Morgendämmerung, hämmert es an Ihrer Wohnungstür. Sie öffnen erschrocken und schlaftrunken die Tür. Zwei Polizisten drängen sich an Ihnen vorbei in die Wohnung und fordern Sie auf, binnen zwanzig Minuten Ihre nötigsten Habseligkeiten zusammenzuraufen. Dann durchsuchen die Ordnungshüter die Zimmer. Als Asylsuchender leben Sie bereits Jahre in Deutschland, sind zwar nicht anerkannt, aber geduldet. Sie haben sich integriert, Freunde gewonnen, sind in Lohn und Brot, Ihre Kinder gehen gerne zur Schule und pflegen Freundschaften. Einst kamen Sie aus Albanien ins Land, weil Sie in Ihrer Heimatstadt Tropoja mit dem Tode bedroht wurden. Jetzt werden Sie ausgewiesen und haben keine Chance mehr, Ihre Abschiebung zu verhindern.

Dieses Schreckensszenario ist Ausgangspunkt eines außergewöhnlichen Kinderromans, „Merjem" von Susanne Schmidt. Außergewöhnlich ist der Roman – der in einer ungenannten deutschen Stadt spielt - vor allem deshalb, weil er das haarsträubende Procedere einer nahezu alltäglichen, die Menschenwürde grob missachtende Abschiebepraxis mit durchaus gebräuchlichen Genres und Stilmitteln der Kinderliteratur erzählt.

Susanne Schmidts Roman beginnt mit dem Umstand, dass sich Merjem, die elfjährige Tochter der albanischen Familie, so in der Wohnung verkrochen hat, dass sie der Abschiebung entkommt und sich nun, Anfang November – ohne Hoffnung, ohne Plan und nur mit dem Allernötigsten bekleidet – in der Umkleidekabine der Tennisplätze in der Nähe ihrer Schule versteckt. Ab diesem Zeitpunkt verquickt die Autorin den tragischen Hintergrund mit einer spannenden Schul-, Familien-, ja sogar mit einer Krimihandlung.

Was zuerst überrascht, entpuppt sich alsbald als ausgezeichnete Möglichkeit, junge Leser und Leserinnen in die Geschichte zu ziehen. Und siehe da: Schnell kann man sich mit Linus anfreunden – dem Gegenteil eines Musterschülers – und mit der pfiffigen Dana, in die Linus, altersgemäß: unsterblich, verknallt ist. Linus und Dana sind Klassenkameraden der verschwundenen Merjem und beschützen das Flüchtingsmädchen, nachdem sie es zufällig im Umkleideraum entdeckt haben. Der Junge lebt bei seiner alleinerziehenden Mutter, das Mädchen bei ihrem alleinerziehenden Vater. Im Umfeld der drei gibt es natürlich noch ein paar nervige Mitschüler, deren ungeahnte Potentiale an Hilfsbereitschaft sich erst im Lauf der Handlung entwickeln.

In die tragische und zuerst ausweglos erscheinende Geschichte eines Flüchtlingsmädchens integriert die Autorin also den ganz normalen Alltag junger Menschen in einer ganz normalen Schule, die üblichen Wirrnisse in nicht ganz intakten Familien und die Herausforderungen, denen sich die Generation Smartphone in ihrer Freizeit ausgesetzt sieht. Auch die Krimihandlung - der rassistische Hausmeister der Schule handelt mit gefakten Markenturnschuhen – fügt sich nahtlos in die Geschichte von Merjams jämmerlichem Leben im Verborgenen.

Dass aus den freundlichen und leidenschaftlichen, wenngleich völlig naiven ersuchen von Linus und Dana, Merjems Situation erträglicher zu gestalten, so etwas wie eine kleine gesellschaftliche Bewegung entsteht, in der unterschiedlichste Menschen guten Willens couragiert und mit Witz zeigen, was in ihnen steckt – das lässt am Ende hoffen.
Buchcover Merjem

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.