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Das unerzählte Schicksal der ukrainischen Zwangsarbeiter.
Tableau einer europäischen Zivilisationstragödie

Für viele kam Natascha Wodins Auszeichnung mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2017 überraschend. Die Autorin war zwar respektiert, aber kein besonders präsenter Teil des deutschsprachigen Literaturbetriebs. Vor allem hatte sie kein einfaches Thema im Gepäck. Und dann muss die Entscheidung doch recht einhellig gewesen sein. Denn Natascha Wodin hatte die Lebensgeschichte ihrer Mutter aufgeschrieben – ein Kriegsschicksal, wie man es so bislang nur selten zu lesen und zu hören bekommen hatte und das in seiner historiografischen Tiefe und stilistischen Souveränität für den Leseprofi somit unumgänglich wurde.

Natascha Wodin, Jahrgang 1945, wurde als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter, die ihre Gesundheit in den Leipziger Flick-Werken ruinierten, in der fränkischen Provinz geboren. Einen Teil ihrer Kindheit verbringt sie im für seine „anarchische Kriminalität" berüchtigten Lager für Displaced Persons: Valka. Später wird die Familie in eine kleine Siedlung in der gleichen Gegend umgetopft. Auch hier erlebt Natascha Wodin die gleich mehrfache Stigmatisierung durch Armut, emotionale Versehrtheit und eine Fremdheit, der die deutsche Nachkriegsgesellschaft äußerst feindselig gegenübersteht. Aus Sehnsucht nach einer „respektablen Herkunft" wird sie zur notorischen Lügnerin und erfindet sich eine Familiengeschichte, die in aristokratische Traumwelten führt. Lachhaft, bei diesen Lebensumständen! Und dann, Jahrzehnte später, öffnet Natascha Wodin, inzwischen etabliert als Autorin und Übersetzerin, ihre Familienakte noch einmal. Und sie macht eine erstaunliche Entdeckung: Mütterlicherseits entstammt sie tatsächlich einer der reichsten italienischen Familien der Ukrainischen Hafenstadt Mariupol. Es gab zwei Automobile in ganz Mariupol. Eins davon gehörte der Familie. Wodins Vorfahren wurden dann während der russischen Revolution enteignet, eine Tante wegen konterrevolutionärer Umtriebe in die Verbannung geschickt, ein Onkel beglückte die jeweiligen Machthaber mit dem weichen Tenor seiner Opernstimme. Wodins Mutter hat nie ein Sterbenswort über diese Herkunft verloren. Was muss diese Frau sonst noch in ihrem Herzen verschlossen haben?

„Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe..." Diesen Satz hat Jewgenia Jakowlewa Iwatschenko ihrer Tochter Natascha als Aufgabe hinterlassen. Sie hat ihn selbst nie vollenden können. Das Leben hatte Sie sprachlos gemacht und seelisch entstellt: erst während der stalinistischen Säuberungen, dann im besetzten Sowjetreich, im kriegswütigen Deutschland und zuletzt im russenfeindlichen Klima der BRD. Mitte der fünfziger Jahre ertränkte sie sich in der Regnitz. Da war Natascha Wodin ein zehnjähriges Mädchen, das mit einer kleinen Schwester und einem alkoholkranken Vater zurückblieb: ein „Russenkind"!

Ihr Buch beginnt mit einer Spurensuche, die sie, inzwischen Ende sechzig, in einen russischen Chatroom für Kriegsvertriebene verschlägt. Dort trifft sie auf einen engagierten Genealogen aus Mariupol, der die Sache ins Rollen bringt. Bald taucht ein Großcousin namens Kiril auf, der Wodin die Namen weiterer Verwandter nennt und sich irgendwann als psychotischer Muttermörder entpuppt – das späte Opfer einer durch alle Arten politischer Gewalt dysfunktional gewordenen Familie.

Der erste Teil des Buches hält sich an die Chronologie von Wodins Recherche und rekonstruiert die vorrevolutionäre Gesellschaft der kosmopolitischen Handelsstadt Mariupol. Im den anderen Teilen des Buchs verfährt Natascha Wodin literarischer. Sie fühlt sich in die Situation ihrer Tante Lidia im Straflager am Weißen Meer ein und später in das niederschmetternde Schicksal ihrer mehrfach vertriebenen Eltern. Die Wodins haben ihre besten Jahre auf der Flucht und in den menschenschinderischen Flick-Werken verbracht – wahlweise sind sie vor den russischen Machthabern davongelaufen, die sie erst als Klassenfeinde (wegen ihrer bürgerlichen Herkunft) und später als Vaterlandsverräter (wegen ihrer deutschen Kriegsgefangenschaft) drangsalierten. Später werden sie von der deutschen Nachkriegsgesellschaft als Bestien aus dem Osten stigmatisiert, als „menschlicher Unrat". Nach Hause in die Ukraine können sie nicht. Es bleibt nur eine Option: Dort bleiben, wo ein Leben in Würde und Anstand unmöglich ist. Aus dieser beklemmenden Enge befreit sich Natascha Wodin, bewegt sich im Vollzug eines eigensinnigen Schriftstellerlebens und einer aufreibenden Schriftstellerehe mit dem Dichter Wolfgang Hilbig maximal weit weg von ihrer Herkunft. "Was ging mich das alles an", heißt es im Buch, als ihr das Familienschicksal auf einmal viel zu nah rückt: "Das sowjetische und das postsowjetische Fiasko, das nie endende russische Fatum, das Nichtaufwachenkönnen aus einem kollektiven Albtraum, das Gefangensein zwischen Untertanentum und Anarchie, zwischen Leidensgeduld und Gewalt, diese ganze unaufgeklärte, finstere Welt, diese Familiengeschichte aus Ohnmacht, Besitzergreifung, Willkür und Tod, dieses unselige Russland - die ewige Mater Dolorosa, die ihre Kinder so unerbittlich umarmte?"

In fabelhaft verdichteter Prosa, die niemals den Elendskitsch auch nur streift, gelingt Natascha Wodin viel mehr als die Rekonstruktion eines Familienverhängnisses. Sie zeichnet aus maßvoller Distanz und mit Empathie für alle Opfer von Verfolgung und Verbannung das Tableau einer europäischen Zivilisationstragödie. Die immer wieder beschriebenen Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts werden durch die Herausarbeitung des Schicksals der Zwangsarbeiter nicht relativiert, sondern komplettiert. Tausende der „primitiven, kurz stampfenden Slavinnen", wie Hitler sie nannte, erlitten ein Schicksal, das sie bis weit in die Nachkriegszeit auf sowjetischer wie auf deutscher Seite zu Paria-Existenzen machte.
Buchcover Sie kam aus Mariupol

Von Katharina Teutsch

​Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.