Heinz Helle Die Überwindung der Schwerkraft
- Suhrkamp Verlag
- Berlin 2018
- ISBN 978-3-518-42823-8
- 208 Seiten
- Verlagskontakt
Annäherung an einen Toten
Nun, in seinem dritten und neuen Roman, erzählt Heinz Helle von einer komplizierten Annäherung zwischen zwei ungleichen Brüdern. Helle ist ein wandlungsfähiger Stilist. Er schreibt hier, anders als in den vorangegangenen Büchern, in langen, sich manchmal über Seiten hinziehenden Satzperioden, die so elegant gefügt sind, dass sie sich mühelos verfolgen lassen. Ein Gedankenstrom, ein Erinnerungsversuch, eine Trauerarbeit.
Zwei Brüder gehen zusammen trinken. Der ältere ist einer von der Sorte, denen man ungerne begegnen möchte, vor allem nicht an einem Abend in der Kneipe. Er redet viel und er ist überzeugt davon, dass seine Rede Gewicht und Geltung hat. Er ist hochintelligent und zutiefst misanthropisch. Und wie so oft bei solchen Figuren bemerken wir bald, dass dieser Mann ein ins Dunkle gewendeter Humanist ist, der seine Hoffnungen hat fahren lassen müssen. Er ist besessen von der Bösartigkeit der Menschen, hat sich hineingebohrt in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs; er kennt alle Details über die widerwärtigen Umtriebe des belgischen Kinderschänders Marc Dutroux. Wer die Menschheit durchschaut hat, so könnte man schlussfolgern, hat keine andere Wahl als die, sich von den Menschen abzuwenden.
Der zwölf Jahre jüngere Ich-Erzähler ist zunächst nur das Medium, durch das die Suada des Älteren fließt. Doch der ältere Bruder, das erfährt man recht schnell, ist tot. Die vermeintliche Unmittelbarkeit des Erzählten ist in Wahrheit die unzuverlässige Erinnerung des jüngeren Bruders. Durch den Akt des Aufschreibens versucht er zum einen, posthum Nähe herzustellen. Zum anderen aber verfügt der jüngere Bruder dadurch auch über die Deutungshoheit: Er entscheidet, was wie erzählt wird.
Heinz Helle hat dieses enorm dichte Gewebe an Motiven, Perspektiven und Zeitebenen fest im Griff. „Die Überwindung der Schwerkraft“ ist ein Buch, das das Verhältnis von Zuneigung und Distanz unter Geschwistern (die hier streng genommen nur Halbgeschwister sind) reflektiert und auch die Frage nach Schuld und Verantwortung stellt – selbst und gerade auch innerhalb des familiären Kontextes. Und es ist nicht zuletzt auch ein Buch, das immer wieder Ausflüge in das Groteske unternimmt. Komik und Verzweiflung, das weiß dieser ungemein kluge Autor, liegen stets nah beieinander.

Von Christoph Schröder
Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.
Inhaltsangabe des Verlags
Zwei Bier, und dann noch zwei – mehr braucht es nicht für etwas Nähe. Doch dass die Wärme des Alkohols nicht wirklich gegen die Kälte hilft, die draußen herrscht, wissen auch die beiden Brüder, die von Kneipe zu Kneipe ziehen. Der ältere trinkt längst ohne jeden Anlass, aus Trauer oder Wut angesichts einer Welt, die von Schmerzen und Leid, von Kriegen und Gewalt bestimmt ist. Und doch erzählt er dem jüngeren an diesem Abend nicht nur von Stalingrad und Marc Dutroux, sondern auch von seinem baldigen Vaterglück. Was beide nicht wissen: Es wird danach kein Wiedersehen geben. Nur einmal telefonieren sie noch miteinander. Der nächste Anruf, neun Monate später, ist die Nachricht vom Tod des älteren Bruders. Was bleibt, sind die Erinnerungen an ihn und Fragen: Warum das Ganze? Was wollen wir auf der Welt? Und was genau soll das überhaupt sein, leben und sterben?
Virtuos verknüpft Heinz Helle in seinem neuen Roman die Suche nach den Spuren des verstorbenen Bruders mit der Suche nach den Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Wie genau er die Geschwister dabei seziert, ist schmerzhaft-schön: ein gezielter Schlag in die Magengrube, durchfunkelt von Trost und Hoffnung.
(Text: Suhrkamp Verlag)