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Buchcover 1913. Der Sommer des Jahrhunderts

Florian Illies 1913. Der Sommer des Jahrhunderts

Mit Förderung von Litrix.de auf Russisch erschienen.

Buchbesprechung

​Wer sich vor der Zahl Dreizehn fürchtet, dem muss dieses Jahr bange zumute sein. Das war auch schon vor hundert Jahren so. Am Neujahrstag 1913 malt sich Franz Kafka seine Enthauptung aus und schiebt es auf die Unglückszahl. Auch den Komponisten Arnold Schönberg quält panische Angst vor allem, was mit der Dreizehn zu tun hat. Ob er wohl deshalb die Zwölftonmusik erfand? Das Jahr 1913 hat bislang wenig Beachtung gefunden. Eingezwängt zwischen zwei Katastrophen – dem Untergang der Titanic und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs – diente es meist als Lückenfüller. Dass es aber im Gegenteil ein Jahr von ungeheurer kultureller Blüte war, zeigt Florian Illies, früher Kulturjournalist und seit 2011 geschäftsführender Gesellschafter des Auktionshauses Villa Grisebach, in seinem erzählenden Sachbuch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“.

Jahrelang hat er Briefe, Tagebücher und Zeitungen durchforstet, auf der Suche nach den Erlebnissen und Gedanken der Schlüsselfiguren aus Kunst, Musik, Wissenschaft und Literatur. Sein großes Verdienst ist, dass er die zentralen Gestalten dieses Jahres als Menschen zeigt, mit all ihren Ängsten, schrulligen Eigenarten und Gebrechen. Herausgekommen ist die wundervolle Collage eines überdrehten und überhitzten Jahres, dessen Zeitgenossen sich zumeist in einem nervösen Erschöpfungszustand befanden. Angetrieben von einem gewaltigen Modernitätsschub setzte 1913 dem langen neunzehnten Jahrhundert ein Ende.

Marcel Duchamp erschafft sein erstes Readymade, Henry Ford setzt erstmals Fließbänder in seinen Fabriken ein, man entdeckt die Büste der Nofretete, die Ozonschicht und die Ruinenstadt Machu Picchu. Ein russischer Pilot fliegt den ersten Looping der Geschichte, die gestohlene Mona Lisa taucht wieder auf, in Mailand gründen zwei Brüder die Modefirma Prada, die Armory Show schockiert Amerika. Vieles davon schiebt Illies als Zwischenspiele in seine ohnehin knappen und somit stets kurzweiligen Schilderungen ein.

In „1913“ entwirft er ein feuilletonistisches Kaleidoskop eines Jahres am Rande des Abgrunds – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Das gesammelte Material ordnet Illies nach Monaten, innerhalb derer er alles aufführt, was ihn erheitert und interessiert. Indem er Gleichzeitiges zusammenstellt, reiht er sich ein in eine literarische Tradition, in der auch Werner Steins „Kulturfahrplan“ steht. Desgleichen die 'Jahrbücher' von Karl Schlögel über das stalinistische Moskau 1937 und Hans Ulrich Gumbrechts „1926“ über Alltagsphänomene der Zwischenkriegszeit.

Durchgängig in der Gegenwartsform berichtet Illies von höchst feinfühligen Künstlern, die das Jahr 1913 als eine Zeit des Umbruchs wahrnahmen. Ein Krieg schien zwar möglich, aber doch sehr unwahrscheinlich. Eine Vorkriegszeit entsteht eben nur in der Rückschau. Er schildert ein schaffensfreudiges und zugleich übermüdetes Künstlermilieu, das sich auf die vier „Frontstädte der Moderne“ konzentriert: das brodelnde Berlin, das glitzernde Paris, das aufgewühlte Wien und das beschauliche München. Viele Genies der Zeit litten unter Neurasthenie – ein Vorläufer des heutigen Burn-out-Syndroms –, die sie in Kurorten zu heilen suchten. Ganze Bündel von Neuerungen versetzten die schöpferischen Geister in fieberhafte Erregung und verlangten ihnen einiges ab. Man probierte neue Modelle von Partnerschaft aus, psychoanalysierte seine Triebe und begehrte gegen die Väter auf.

Illies beschreibt diese zwölf Monate zwischen Wahn und Wirklichkeit mit einer liebevollen Ironie und großer Lebendigkeit. Ähnlich einem Freund, der wissen will, wie es seinen Bekannten geht, kehrt er wiederholt zu vielen der mehr als fünfzig aufgeführten Personen zurück: Franz Kafka, der eine Nachricht nach der anderen an Felice Bauer schickt. Gustav Klimt, vor dessen Wohnung die Modelle wie Groupies Schlange stehen. Robert Musil, der gewissenhaft für jeden Beischlaf ein „C“ für Coitus in seinem Tagebuch vermerkt. Ein faszinierendes Buch über den Beginn der Moderne, das zeigt, wie nah uns die Menschen vor hundert Jahren schon waren.  

Von Daniel Grinsted

​Daniel Grinsted ist Kulturwissenschaftler und Anglist/Amerikanist. Er arbeitet als freier Kulturjournalist für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Zeit Online, Literaturen, das Börsenblatt und andere Medien.