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Buchcover Die Inkommensurablen

Raphaela Edelbauer Die Inkommensurablen

Übersetzungsförderung
Italienische Rechte bereits vergeben.

Bürgerliche Abgründe – einst und jetzt

Raphaela Edelbauers Roman „Die Inkommensurablen“

Den großen habsburgischen Schriftsteller Robert Musil hat in seinem berühmten „Mann ohne Eigenschaften“ etwas ganz Besonderes umgetrieben. Naturwissenschaften, Mathematik oder die Psychoanalyse drohten nämlich, was die Deutung der Welt betraf, der Literatur den Rang abzulaufen. Deshalb wagte Musil in seinem Roman ein großangelegtes Experiment und beschrieb in einer brillant-irrwitzigen Versuchsanordnung die Zustände in Wien kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges – und zwar im Bewusstsein der dreißiger Jahre, als schon vieles auf einen Zweiten hindeutete. Sein „Mann ohne Eigenschaften“ zitierte und unterlief die Diskurse seiner Zeit – und war ihnen gleichzeitig voraus.

Raphaela Edelbauer unternimmt jetzt eine furiose Parallelaktion. Sie dockt an Musil an, stellt den 1. August 1914, den Tag der deutschen Kriegserklärung, in den Mittelpunkt eines Romans und macht es sich zur Aufgabe, Musils Beweisführung, wozu Literatur trotz allem in der Lage sein könnte, am selben Sujet unter heutigen Bedingungen zu wiederholen. Der siebzehnjährige Bauernknecht Hans ist von seinem Hof in Tirol ausgebüchst und kommt fast mittellos in Wien an. In der Tasche hat er nur die Adresse einer Psychoanalytikerin namens Helene Cheresch, von ihr möchte er sich behandeln lassen. Doch dieses Geschehen an der Oberfläche liefert vor allem ornamentale Reize für Unter- und Abgründiges. Wie traumwandlerisch lernt Hans zwei Freunde kennen, mit denen er die nächsten 24 Stunden verbringen wird, die geheimnisvolle Klara und den reichen Aristokratensohn Adam. Man erlebt eine Probe von Arnold Schönbergs skandalumwitterten Zweitem Streichquartett op. 10, ein Abendessen in Adams konservativ-soigniertem Elternhaus und schließlich einen  orgiastischen Streifzug durch die nächtliche Wiener Halb- und Unterwelt.         

Die drei Helden des Romans sind an diesem Tag der Kriegsbegeisterung offenkundig Inkommensurable, wie es der Titel programmatisch verheißt – ein gravitätisches Wort, das sofort in den ästhetischen Kosmos von Robert Musil führt. Bei Edelbauer allerdings könnte „Die Inkommensurablen“ fast der Name einer Avantgarde-Pop-Band sein. Und zusätzlich ist „Die Inkommensurablen“ auch der Titel des Vortrags, den die Mathematikstudentin Klara in ihrem Rigorosum über die irrationalen Zahlen hält.

Damit bewegt sich Raphaela Edelbauer in derselben essayistischen Sphäre, auf die schon das Erzählen Robert Musils hinsteuerte. Ab einem bestimmten Punkt, der für einen Schriftsteller aus Konkurrenzgründen besonders brisant ist, geraten die exakten Wissenschaften in die Zone des Imaginären. Und hier beweist die Autorin, dass das Phantastische das ureigene Heimspiel der Literatur ist. Sie verschiebt ständig die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit und beleuchtet, ohne dass an irgendeiner Stelle konkrete Aktualitätsbezüge auftauchen, den Tag des Kriegsausbruchs, der die bürgerliche Gesellschaft symbolhaft verdichtet, mit einem heutigen Erkenntnisinteresse. Wie funktioniert die Manipulation der Bevölkerung, wie verhält man sich dazu?

Es geht Schlag auf Schlag in diesem Roman. Dass Hans, Klara und Adam auffällige psychische Dispositionen und eigenartige Gesichte haben, spielt für das Erzählen selbst eine große Rolle. Es gibt Traumsequenzen, die Thrillerelemente entfalten, und es kommt zum Showdown draußen auf dem Land, in einem im Lauf des Textes visionär aufgebauten und dann plötzlich dekonstruierten Dorf. Es gibt keine Gewissheiten. Nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und angesichts des Faschismus waren viele Schriftsteller und Intellektuelle damals vom Phänomen der Massensuggestion umgetrieben. Raphaela Edelbauer bezieht es in ihrem glänzenden Roman auf die Gegenwart, auf neue Formen der Manipulation des Bewusstseins. Wir wissen alles, sagen „Die Inkommensurablen“, aber das ist zu wenig.   
Buchcover Die Inkommensurablen

Von Helmut Böttiger

Helmut Böttiger, geboren 1956 in Creglingen, studierte Germanistik und Geschichte und arbeitete dann längere Zeit als Literaturredakteur der Frankfurter Rundschau. Er
lebt als freier Autor, Kolumnist und Kritiker in Berlin.

(Stand: 2020)