Reiner Engelmann Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse
- cbj
- München 2015
- ISBN 978-3-570-15919-4
- 192 Seiten
- Verlagskontakt
Reiner Engelmann
Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse
Bilder des Grauens. Reiner Engelmanns Biographie des Auschwitz-Fotografen Wilhelm Brasse
Dazu, dass Brasse weitaus länger durchhielt, trugen – von einer enormen Portion Glück abgesehen – seine Fähigkeiten im Umgang mit der Kamera bei. Ein halbes Jahr nach seiner Inhaftierung wurde der ausgebildete Porträtfotograf zum sogenannten Erkennungsdienst des Lagers abkommandiert. Fortan bestand seine Hauptaufgabe darin, andere Häftlinge für die Kartei abzulichten – drei Bilder pro Person: von der Seite, frontal, im Halbprofil mit Kopfbedeckung. Manchmal porträtierte Brasse mehr als 100 Personen pro Tag. Insgesamt müssen es an die 70.000 Menschen gewesen sein. Für die allermeisten war es das letzte Foto ihres Lebens.
Reiner Engelmann, der Brasse kurz vor seinem Tod im Oktober 2012 noch ausführlich interviewen konnte, hat die Geschichte des "Fotografen von Auschwitz" in einem kleinen, aber bemerkenswerten Buch aufgeschrieben. In 33 Kurzkapiteln wird ein Panorama der Unmenschlichkeiten aufgefächert, das gerade deswegen eine starke Beklemmung hervorruft, weil Engelmann seine Schilderung vollkommen frei hält von Pathos oder falscher Sentimentalität. Aus der ebenso sachlich wie einfühlsam rekonstruierten Zeitzeugenperspektive werden die lebensbedrohlichen Zumutungen des Lageralltags geschildert, die Willkür und Brutalität der Aufseher wird ebenso veranschaulicht wie der menschenverachtende Zynismus der Lagerärzte. So traten neben den Neu-Inhaftierten auch jene vor Brasses Kamera, an denen die Nationalsozialisten ihre "medizinischen Forschungen" durchführten. Sadisten im weißen Kittel wie Josef Mengele und Carl Clauberg ließen im Fotoatelier des Lagers ihre "Rassenuntersuchungen", Hungerexperimente und Sterilisationsmassaker dokumentieren.
Brasse wusste bereits damals sehr genau, dass er durch die Linse nur einen Bruchteil der Verbrechen zu sehen bekam, die allein im sogenannten Stammlager Auschwitz (Auschwitz I), wo er inhaftiert war, verübt wurden – vom eigentlichen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ganz zu schweigen. In der zweiten Jahreshälfte 1941 schien die Grausamkeit allerdings eine neue Dimension zu erreichen: Plötzlich sah man SS-Männer mit Gasmasken im Stammlager umher laufen. Gerüchte machten sich breit, denen zufolge Menschen nun massenweise und systematisch mit Zyklon B vergiftet wurden – bisher wurden die Opfer in der Regel erhängt, totgeprügelt oder erschossen. Irgendwann erteilte Brasses Vorgesetzter Ernst Hofmann im Fotoatelier den Befehl: "Brasse, ab heute wirst du keine Juden mehr fotografieren. Das hat keinen Sinn, die sterben sowieso."
Gewissermaßen nebenbei, ohne Hang zur unangemessenen Heroisierung, skizziert Engelmann das Charakterbild des Porträtisten Brasse: Er musste seine Fähigkeiten als Fotograf in den Dienst der Nationalsozialisten stellen, um zu überleben. Sein moralischer Kompass blieb jedoch intakt. Wann immer es ging, versuchte er seinen Mithäftlingen zu helfen. Dennoch übermannte auch ihn das Gefühl der Ohnmacht.
In einem entscheidenden Moment allerdings hat Brasse den Gehorsam verweigert: Im Januar 1945, als der Kanonendonner der Roten Armee näher rückte, wandte sich der Leiter des Erkennungsdienstes, Obersturmführer Bernhard Walter, an den Fotografen: "Brasse, der Iwan kommt." Alle Dokumente und Aufnahmen sollten umgehend vernichtet werden. Zunächst warf Brasse tatsächlich das gesamte Material in den Ofen. Kaum war Walter verschwunden, zog er alles wieder heraus. Fast 40.000 seiner Bilder sind der Nachwelt als Dokumente gegen das Vergessen erhalten geblieben.
In Engelmanns Buch finden sich nur wenige der Fotografien Brasses. Durch die knappen, schnörkellosen Sätze entstehen die Bilder des Grauens im Kopf des Lesers.

Von Marianna Lieder
Marianna Lieder ist seit 2011 Redakteurin beim „Philosophie Magazin“. Als freie Journalistin und Literaturkritikerin arbeitet sie u. a. für den Tagesspiegel, die Stuttgarter Zeitung und Literaturen.
Inhaltsangabe des Verlags
Das erschütternde Dokument eines Zeitzeugen
Als Wilhelm Brasse (1917-2012) mit 22 Jahren in das Stammlager Auschwitz eingeliefert wird, ahnt er nicht, dass er als gelernter Fotograf zum Dokumentarist des Grauens wird. Seine Aufgabe ist es, die KZ-Insassen zu fotografieren. Menschen, die kurze Zeit später in den Gaskammern umgebracht werden. Menschen, die von Josef Mengele zu »medizinischen Forschungsarbeiten« missbraucht werden und denen die Todesangst ins Gesicht geschrieben steht. Hätte er die Arbeit verweigert, wäre das sein eigenes Todesurteil gewesen. Als Brasse 1945 alle Fotos verbrennen soll, widersetzt er sich, um Zeugnis zu geben von dem unfassbaren Grauen. Reiner Engelmann hat Wilhelm Brasse noch kennengelernt und schreibt sein Leben auf. Ein erschütterndes Dokument – wider das Vergessen.
Mit Originalfotos aus dem Museum Auschwitz.
(Text: cbj)