Ulrich Raulff Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung
- C.H.Beck Verlag
- München 2015
- ISBN 978-3-406-68244-5
- 461 Seiten
- Verlagskontakt
Ulrich Raulff
Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung
Was sind wir Menschen ohne Pferde?
Ulrich Raulffs meisterhafte Geschichte eines lange unzertrennlichen Gespanns
Die „Geschichte einer Trennung", so der Untertitel der weit ausholenden Pferdestudie, zieht sich durch alle existenziellen Bereiche des menschlichen Lebens, von ökonomischen, technologischen, politischen und kulturellen Fragen bis hin zu psychischen Bindungen, die sich ins Ungewisse verschieben, seit der Mensch seinen wichtigsten nichtmenschlichen Ansprechpartner verloren hat. Natürlich gibt es den Reitsport und die Pferdezucht, intelligente Säugetiere werden als Therapie- und Freizeittiere gebraucht, und nicht zuletzt ist die Zahl der Pferde in Europa nach einem historischen Tiefstand in den 1970ern wieder angestiegen; und doch, so Raulff, hat sich etwas Grundsätzliches verändert. Der „kentaurische Pakt", der über Jahrtausende Bestand hatte, gilt in dieser Form nicht mehr – zumindest in Europa. Mit der Technologisierung der Landwirtschaft hat ein zentrales Nutztier seinen Job verloren, und seit Herrscher nicht mehr auf Pferden einherreiten, ist auch ein wichtiges Insignium politischer Macht verschwunden.
Den „kentaurischen Pakt" und seine langsame Umwälzung unterteilt Raulff in vier systematische Felder. Zunächst fassen die „Realgeschichten" den Alltag von und mit Pferden als Energielieferanten zusammen, in den Städten und auf dem Land, von den Kutschern in Paris bis zur Erfindung der Mähmaschinen in der Landwirtschaft. In einem zweiten Schritt widmet sich der Band den „Wissensgeschichten": Medien wie die Fachbücher der Züchter, Literatur und Malerei, Orte wie das Gestüt und die Rennbahn, soziale Gruppen wie Tierärzte und Militärs, Praktiken wie Training und Zucht (und damit nicht zuletzt der zentrale Einfluss des arabischen Pferdes) rücken in den Fokus. Das dritte Kapitel gilt den „Metaphern- und Bildergeschichten", den Darstellungen also, in denen „das 19. Jahrhundert seine Vorstellungen von Macht, Freiheit, Größe Mitleid und Terror entwickelt hat" – von Napoleon bis Nietzsche, von den erotischen Nebenbedeutungen des Reitens und der Peitsche bis zum Mitleid mit den schrecklich verendeten Pferden des Ersten Weltkriegs. Im abschließenden vierten Kapitel erzählt Raulff „Historien" von Pferden und Menschen – und dreht die Blickrichtung um. Nach den drei großen Feldern „Energie, Pathos, Wissen" soll es im vierten darum gehen, „was das Pferd uns lehrt". In den hier versammelten Pferdegeschichten, die den Begriff „Sattelzeit" des Historikers Reinhart Koselleck, die neuen Methoden der Archäologie wie auch Geschichten von Indianern und Cowboys umfassen, kommt der ausführliche, empathisch pferdefreundliche Erzählduktus dieses Bandes vielleicht am besten zum Ausdruck.
Ganz allgemein geht es Raulff, dessen Publikationen über den George-Kreis und die Theoriegeschichte der 1970er zuletzt große Erfolge feierten, gerade nicht um die eine, zentrale „history", sondern um dezentrale „horse stories", auch wenn ein gewisser Fokus auf wichtige, weiße Männer zu Pferd (Napoleon) dennoch bestehen bleibt. Auch der Anteil der Frauen – die „her story" im Pferd-Mensch-Gespann – wird zwar bedacht, hätte aber durchaus noch umfangreicher ausfallen können; die mythologisch und psychologisch so einflussreiche Schreck- und Lustfigur der berittenen Amazone etwa beschreibt Raulff in einem Unterkapitel, das den Titel „Kleine Amazonen" trägt. Vor allem aber, und hierin liegt das große Verdienst dieser so eleganten wie lesbaren Pferdegeschichte, macht Raulff die Dialektik vom Verschwinden und Wiederauftauchen sichtbar. Während die Pferde im 19. und frühen 20. Jahrhundert scheinbar lautlos aus dem realen Alltag verschwinden, tauchen sie in den Träumen und Texten, auf den Bildern und Kinoleinwänden umso machtvoller wieder auf. In einem Prozess der Sublimation werden Pferde „zu Gespenstern der Moderne".
„Was aber geschieht, „wenn der wichtigste nicht-menschliche Körper, in dem die Menschen sich so lange Zeit erkannt und verkannt haben, ihr alter Begleiter, ihr Freund, nicht mehr da ist?", fragt Raulff. Und verweist selbst darauf, dass Pferde nicht gänzlich verschwunden sind. Denn sie sind ja nicht nur als Gespenster da, sondern existieren nach wie vor um uns herum in ihrer vollen, anschaulichen Pferdeleiblichkeit. „Das letzte Jahrhundert der Pferde" mag in vielerlei Hinsicht ein Rückblick sein, öffnet aber zugleich die Augen für ein anderes Geschichtsverständnis – und für den Menschen als lebendiges Wesen, das von anderen Körpern umgeben ist. Geschichte wird gemacht, aber eben nicht nur von Menschen, sondern auch von Tieren: „Das Pferd, sechstausend Jahre lang unser Beweger, ist immer noch ein großer Beweger unserer Erkenntnis: unser Freund, unser Gefährte, unser Lehrer."

Von Jutta Person
Jutta Person, geboren 1971 in Südbaden, studierte Germanistik, Italienistik und Philosophie in Köln und Italien und promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Physiognomik im 19. Jahrhundert. Die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin lebt in Berlin und schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Philosophie Magazin. Von 2004 bis 2007 war sie Redakteurin bei Literaturen, seit 2011 betreut sie das Ressort Bücher beim Philosophie Magazin.
(Stand: 2020)
Inhaltsangabe des Verlags
Seit Urzeiten war das Pferd der engste Partner des Menschen. Es war unverzichtbar in der Landwirtschaft, verband Städte und Länder, entschied die Kriege. Doch dann zerbrach der kentaurische Pakt, und in nur einem Jahrhundert fiel das Pferd aus der Geschichte heraus, aus der es jahrtausendelang nicht wegzudenken war. Furios erzählt Ulrich Raulff die Geschichte eines Abschieds – die Trennung von Mensch und Pferd.
Der Exodus des Pferdes aus der Menschengeschichte ist ein erstaunlich unbeachteter Vorgang. Ganze Bibliotheken zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts schweigen sich aus über das Pferd, das gleichwohl in Europa und Amerika allgegenwärtig war – bis das letzte Jahrhundert der Pferde in der Zeit Napoleons anbricht und mit dem Ersten Weltkrieg ausklingt. Ulrich Raulff zieht in seinem neuen Buch alle Register der Kultur- und Literaturgeschichte und beschreibt mit beeindruckender Erzählkunst eine untergehende Welt – ein Kapitel vom Auszug des Menschen aus der analogen Welt.
(Text: C.H.Beck Verlag)