Mehrnousch Zaeri-EsfahaniMehrdad Zaeri-Esfahani
33 Bogen und ein Teehaus
- Peter Hammer Verlag
- Wuppertal 2016
- ISBN 978-3-7795-0522-8
- 148 Seiten
- 11 ab 12 Jahren
- Verlagskontakt
Mehrnousch Zaeri-Esfahani
33 Bogen und ein Teehaus
Mit Förderung von Litrix.de auf Arabisch erschienen.
Eine Million Schmetterlinge im Kopf
Mehrnouch Zaeri-Esfahani beweist gleich auf den ersten Seiten ihres Buches, welch meisterhafte Erzählerin sie ist. Glauben wir nicht schon alle Details über Tschernobyl zu kennen? Sie schildert uns die Ereignisse, als sähen wir sie zum ersten Mal, oder als hätten sie sich in einer fernen Vergangenheit zugetragen. Die 1974 in Isfahan geborene Iranerin beschreibt eine unerhörte Begebenheit, ganz im Sinne der deutschen Novellentradition. Von der Wirklichkeit so zu erzählen, dass sie wie eine erfundene Geschichte wirkt, das nimmt ihr die Schwere des Faktischen, so erhält sie eine spielerische Note und wird verhandelbar. Die verlassene Stadt Pripjat hat scheinbar nichts mit dem Schicksal der iranischen Familie zu tun. Im Fremden spiegelt man sich jedoch, und der großen Katastrophe steht die kleine private Katastrophe gegenüber. Eine Wendung, die das Erzählen noch interessanter macht, zumal Mehrnouch Zaeri-Esfahani einen Ton wählt, in dem sich Freundlichkeit und kindlicher Ernst vereinen.
So erfahren wir, wie der Vater, ein wohlhabender Arzt, gegen das Schah-Regime auf die Straße geht, und wie die Kinder die Revolution als großes Abenteuer erleben. Anhand des Kopftuchgebots wird der Terror im Detail geschildert, den das neue religiöse System installiert. Die Dimension des mörderischen Zynismus offenbart sich anhand der Glückwunschpostkarten, die die Mütter der im Iranisch-Irakischen Krieg gefallenen Söhne vom Staat erhalten. Über Nacht flüchtet die Familie in die Türkei. Mehrnousch muss ihre geliebten Katzen zurücklassen. Die Odyssee führt nach Ost- und West-Berlin, um dann über Karlsruhe schließlich in Heidelberg zu enden.
Das Gefühl, nirgendwo hin zu gehören, nirgendwo gewollt zu sein, die Erschöpfung, die Armut, die Demütigungen, die ein Kind in der Schule ertragen muss, weil es die Sprache nicht beherrscht, das liest man mit angehaltenem Atem, weil Mehrnousch Zaeri-Esfahani ohne jede Spur von Sentimentalität erzählt. Die Nöte eines Kindes, das verlacht wird, dem die Scham so tiefe Schnitte in die Seele schneidet, das sie nie ganz verheilen, solche Szenen behält man nach der Lektüre unweigerlich in Erinnerung. Freilich gibt es auch Menschen, die genauer hinschauen, wie eine Lehrerin, der die Talente des Kindes nicht verborgen bleiben. Dieses Buch ist keineswegs in schwarze Bitternis getaucht.
Wir sehen die Welt vielmehr mit den weit geöffneten Augen eines Kindes, dessen Interesse unstillbar ist, egal ob es am Hafenbecken in Istanbul oder an der Spielzeugtheke im KaDeWe steht. Mehrnousch besitzt einen Blick für die anderen, dadurch gewinnt ihr Bericht an Spannung und Glaubwürdigkeit. Kein deutsches Jugendbuch enthält derzeit eine solch dicht gewebte Erzählstruktur und keines vermag uns eine so unmittelbare Vorstellung davon zu geben, was ein Zuhause sein kann.
Von Thomas Linden
Thomas Linden arbeitet als Journalist (Kölnische Rundschau, WWW.CHOICES.DE) in den Bereichen Literatur, Theater und Film und konzipiert als Kurator Ausstellungen zur Fotografie und zur Bilderbuchillustration.
Inhaltsangabe des Verlags
Die kleine Mehrnousch, Tochter eines Chirurgen, erlebt mit ihren drei Geschwistern eine privilegierte Kindheit in der schönen Stadt Isfahan im Iran der 70er Jahre. Die Familie feiert wie die meisten die Vertreibung des Schahs als freudiges Ereignis - nicht ahnend, dass der neue Machthaber Ayatollah Chomeini in kürzester Zeit eine Willkürherrschaft errichten und sie aller Freiheit berauben wird. Mehrnousch erlebt mit Angst und Wut, wie die Unterdrückung Einzug in alle Lebensbereiche hält. Als ihr 14jähriger Bruder Mehrdad in Gefahr ist, in den Krieg geschickt zu werden, flieht die Familie über Istanbul und Ostberlin nach Westdeutschland. Hier beginnt eine Odyssee durch viele Flüchtlingsheime, ein Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung, bis die Familie in Heidelberg endlich eine neue Heimat findet. Mit poetischer Kraft erzählt Mehrnousch Zaeri-Esfahani ihre Geschichte vom fünften bis zum elften Lebensjahr. Sie erzählt von der Schönheit der Stadt Isfahan und dem glücklichen Familienleben, von den Qualen der Diktatur, von traurigen, aber manchmal auch heiteren Erlebnissen dieser Jahre. Vom Gefühl der Sprach- und Heimatlosigkeit und von der Freude des Ankommens.
(Text: Peter Hammer Verlag)