Sabine Gruber Daldossi oder Das Leben des Augenblicks
- C.H.Beck Verlag
- München 2016
- ISBN 978-3-406-69740-1
- 316 Seiten
- Verlagskontakt
Sabine Gruber
Daldossi oder Das Leben des Augenblicks
Rückkehr ins Leben ohne Schutzweste
Sabine Grubers Roman „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“
Die 1963 in Meran geborene Sabine Gruber hat sich in ihren Romanen – zuerst in ihrem Debüt „Aushäusige" (1996) – immer wieder mit ihrer Heimat Südtirol beschäftigt und Figuren geschaffen, die in die Welt hinaus aufbrechen und doch Hängenbleiben an ihrer Herkunft. Das Motiv des Weggehens und des Zurückbleibens spielt auch in „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks" eine Rolle. Da erzählt Gruber die eindrucksvolle Geschichte eines Vereinsamten, eines Mannes, der in all den Kriegen seine Friedenstauglichkeit verloren hat. Es ist nicht leicht, die Schutzweste dann wieder gegen die Küchenschürze einzutauschen und all die Alltagsbelanglosigkeiten ernst zu nehmen, wenn man eben noch Kinder mit verstümmelten Gliedmaßen fotografiert hat. Anteilnahme und Hilfsbereitschaft sind Eigenschaften, die sich der professionelle Fotograf verbieten muss. Aber wie kann so einer dann zu Hause wieder liebesfähig sein? Und: Muss man denn nicht eingreifen, handeln, helfen, anstatt nur Zeuge zu sein und auf den Auslöser zu drücken?
Das sind Fragen, die in diesem Roman zum Glück nie eindeutig beantwortet werden. Dass man liebt und ein Leben lebt in einer Welt voller Schrecklichkeiten, ist nun mal eine Tatsache, mit der jeder auf seine Weise fertig werden muss. Sabine Gruber hat sich damit schon lange auseinandergesetzt: Sie war mit dem „Stern"-Reporter Gabriel Grüner befreundet, der 1999 im Kosovo erschossen wurde. Die Trauer um diesen Freund und der Respekt vor seiner Arbeit grundieren diesen Roman und geben der Figur des Bruno Daldossi eine enorme Intensität.
Erzählt wird im Wechsel zweier Perspektiven: Außer Bruno, so cool wie verzweifelt, ist da noch Johanna, die Ex-Freundin eines ehemaligen Kollegen, die nach Lampedusa reist, um eine Reportage über Mittelmeerflüchtlinge zu schreiben. Dieser Text ist dem Buch als Prolog vorangestellt – neben dem Bericht von einer Militärübung für Journalisten, wie sie sich im Minenfeld zu verhalten haben. Diese grandiose, unsentimental-genau Reportage vom Verhungern und Verdursten auf dem Meer beweist, was auch Daldossi mit seiner Fotografie erreichen möchte: Es ist möglich, Elend zu zeigen, ohne dabei voyeuristisch zu sein. Seine Fotos sind als kurze Beschreibungen zwischen die einzelnen Kapitel geschaltet; Gruber übersetzt die Bilder in kleine Erzähl-Vignetten, die dem Liebes-Leben der Protagonisten den doppelten Boden geben: Existenz und Geschichte.
Bruno reist Johanna hinterher nach Lampedusa; es kommt zu einer vorsichtigen Annäherung, doch während sie ihn zu lieben bereit ist, geht es ihm vielmehr darum, über die Trennung von Marlis hinwegzukommen. Das „Leben des Augenblicks", das der Titel verspricht, bezieht sich nicht nur auf die Kunst des Fotografen, im richtigen Moment zur Stelle zu sein. Dieselbe Fähigkeit kommt Daldossi nämlich im eigenen Leben abhanden: Da verliert er sich in schmerzlichen Erinnerungen an Marlis und wird verfolgt von Kriegsbildern, so dass er darüber den Augenblick versäumt. Wenn Glück bedeutet, ganz und gar in der Gegenwart zu sein, ist Daldossi ein zutiefst unglücklicher Mensch. Wie Sabine Gruber es schafft, diese Figur lebendig werden zu lassen in all ihrer verzweifelten Zerrissenheit, die die Zerrissenheit unserer Zeit ist, das ist große Kunst. Sie hat einen spannenden, klugen, gefühlsstarken Roman geschrieben, den man nicht wieder vergisst.

Von Jörg Magenau
Jörg Magenau ist Autor und Literaturkritiker, u.a. für die Süddeutsche Zeitung und Deutschlandfunk Kultur. Zuletzt erschien von ihm "Princeton '66. Die abeteneuerliche Reise der Gruppe 47" (Klett-Cotta).
Inhaltsangabe des Verlags
Bruno Daldossi ist ein erfolgreicher Fotograf, der sich auf die Arbeit in Krisen- und Kriegs-gebieten spezialisiert hat. Nach vielen Jahren, in denen er für das Hamburger Magazin „Estero" in Tschetschenien oder im Irak, im Sudan oder in Afghanistan fotografiert hat, geht er mit Anfang Sechzig nur noch sporadisch auf seine gefährlichen Missionen. Als ihn aber seine langjährige Gefährtin Marlis, eine Zoologin, mit der er in Wien zusammenlebt, wegen eines anderen Mannes verlässt, verliert der so gehärtete Mann völlig den Halt. In seine Trauer um den Liebesverlust mischt sich immer stärker die Frage, wie mit dem Leid der Welt, das er in seinen Bildern festhält, zu leben und wie damit umzugehen ist. Wie viel Wahrheit halten wir aus? Wie viel Einfühlung, wie viel Nähe sind uns möglich? Daldossi freundet sich mit der Journalistin Johanna Schultheiß an, die aus Lampedusa berichten soll, und reist ihr nach. Er versucht, Marlis zurückzugewinnen und Verantwortung zu übernehmen für wenigstens eins der Schicksale, die seinen Weg gekreuzt haben. Sabine Gruber erzählt in diesem Roman von journalistischer Wahrheitsfindung, Krieg, Krisen und von einer großen Liebe.
(Text: C.H.Beck Verlag)