Lukas Bärfuss Hagard
Lukas Bärfuss
Hagard
Jagdszenen aus der Großstadt
Das französische Wort „hagard" lässt sich mit „wild, scheu, verstört" übersetzen. In der Jägersprache bezeichnet es gefangene Tiere, zumal Raubvögel, die zwar abgerichtet werden können, aber nie vollständig zähmbar sind. Philip, die Hauptfigur des Romans, ist ein Immobilienverwalter Ende vierzig, gefangen in einem durchschnittlichen Alltag zwischen äußerem Effizienzdruck und innerer Leere. Als er an einem Märznachmittag in der Zürcher Fußgängerzone auf einen säumigen Geschäftspartner wartet, bricht die Verstörung in sein Leben ein. Zunächst aus einer Laune heraus, dann zunehmend wie unter einem geheimnisvollen Bann, folgt er einer unbekannten jungen Frau, die aus einem Kaufhaus gekommen ist und sich nun leichtfüßig, in pflaumenblauen Ballerinaschuhen, auf verschlungenen Pfaden durch die Stadt bewegt. Philip kann ihr Gesicht nicht erkennen und verspürt doch eine unwiderstehliche Faszination; er verliert immer wieder ihre Fährte und bleibt ihr doch auf der Spur.
Die Verfolgungsjagd, die den bis dahin unauffälligen Gutverdiener und Vater eines Sohnes zum wildgewordenen Stalker mutieren lässt, führt in die triste Peripherie der Metropole und bringt den Jäger in skurrile bis makabre Situationen. Sie wird außerdem zum Wettlauf mit dem Akku des Mobiltelefons, an dem die gesamte bürgerliche Existenz des Getriebenen hängt. Am Ende, nach gerade einmal sechsunddreißig Stunden, ist diese Existenz vernichtet.
Bärfuss inszeniert die atemlose, tragikomische Odyssee jedoch nicht nur als Parcours einer persönlichen Obsession, sondern zugleich als Panorama der modernen Wohlstandswelt mit ihren lebensfeindlichen Orten und latenten Bedrohungen. Beiläufig wird die Handlung präzise datiert auf jene zwei Märztage des Jahres 2014, in denen die verschwundene Boeing 777 der Malaysia Airlines, die Besetzung der Krim und die asiatische Vogelgrippe die Nachrichten dominierten, und auch die Topographie Zürichs lässt sich in der Realität nachvollziehen, wenngleich die Stadt nicht genannt wird. Die Kunst des Autors besteht darin, in dieser realistischen Raum-Zeit-Konstellation ein vollkommen surreal anmutendes Ambiente zu erzeugen, in dem die „Abschaffung des Menschen", als Vollendung seiner bereitwillig akzeptierten Fremdsteuerung durch digitale Maschinen, mühelos vorstellbar ist.
Vor diesem Hintergrund wirkt der rauschhafte Liebeswahn des Stalkers, in dessen Fantasie das Objekt der Verfolgung allmählich die Züge eines Lichtwesens, ja einer „Göttin" annimmt, wie ein letzter verzweifelter Ausbruch aus einer dystopisch organisierten Gegenwart. Auch wenn die Rahmenhandlung, bestehend aus Rückblicken auf Philips Biographie und einem verrätselt katastrophalen Schluss, nicht ganz so überzeugen kann wie die beklemmende, satirisch zugespitzte Sequenz im Zentrum des Romans, gehört „Hagard" zu den wichtigsten und aufregendsten deutschsprachigen Prosawerken der jüngsten Zeit.

Von Kristina Maidt-Zinke
Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.
Inhaltsangabe des Verlags
In jedem seiner Romane wagt Lukas Bärfuss sich auf neues Terrain. In »Hagard« folgt er einem Verfolger, und als Leser fühlt man sich fortwährend ganz nah an dessen Kopf.
Ein Mann, eben stand er während des Feierabendgedrängels noch am Eingang eines Warenhauses, folgt aus einer Laune heraus einer Frau. Er kennt sie nicht, sieht sie auch nur von hinten, aber wie in einem Spiel sagt er sich: Geht sie dort entlang, folge ich ihr nicht weiter; geht sie in die andere Richtung, spiele ich das Spiel noch eine kleine Weile weiter. Es bedeutet ja nichts, niemand kommt zu Schaden, und der Abstand in der Menge ist so groß, dass die Frau es gar nicht bemerken wird. Eher ist es eine sportliche Aufgabe, sie in der Menge nicht zu verlieren.
In einer knappen Stunde hat Philip ohnehin einen wichtigen Termin. Aber schon fragt er sich, ob der nicht auch zu verschieben wäre, bis zur Abendverabredung bliebe ja noch etwas Zeit. Was ihn bewegt, ist erst einmal unklar. Ist der Verfolger einfach ein gelangweilter Schnösel? Ein Verrückter? Ein Verbrecher? Er scheint selbst vor etwas zu fliehen.
Etwas Bedrohliches liegt in der Luft, etwas Getriebenes. Ein atemloser Sog entsteht, in den auch der Leser gerät, je länger die Verfolgung anhält. Allen Sinneswahrnehmungen haftet etwas beunruhigend Surreales an. Die aufgerufenen Fragen über unsere Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert gewinnen eine unabweisbare Schärfe.
(Text: )