Robert Menasse Die Hauptstadt
- Suhrkamp Verlag
- Berlin 2017
- ISBN 978-3-518-42758-3
- 459 Seiten
- Verlagskontakt
Robert Menasse
Die Hauptstadt
Slapstick, Tragik und Europa
Nach jahrelangen Recherchen in Brüssel hat der Autor eine Darstellungsform gefunden, deren episodischer Charakter an Robert Altmans Filmklassiker „Short Cuts" erinnert: Statt einer Hauptfigur gibt es, wie es der vielköpfigen Institution entspricht, eine Reihe von handelnden Personen, die einander im Labyrinth des Brüsseler Apparats planmäßig oder zufällig begegnen, Allianzen schmieden, sich bekämpfen oder gegeneinander intrigieren. Es fällt auf, dass keine echte Gemeinsamkeit und Interaktion stattfindet, sondern jeder seine eigenen, bornierten Interessen verfolgt: Auch darin zeigt sich die satirische Zuspitzung, die Robert Menasses EU-Porträt insgesamt zu einer äußerst vergnüglichen Lektüre macht.
Ausgelöst wird der Reigen der Umtriebigkeit durch ein bevorstehendes Großereignis, ein rundes Jubiläum der EU-Gründung. Für das „Big Jubilee Project" fordert Fenia Xenopoulou, die zypriotische Leiterin der Generaldirektion Kultur, originelle Vorschläge ein. Ihr österreichischer Referent Martin Susman, Sohn eines Schweinebauern und Bruder eines Schweinelobbyisten, kommt während einer Dienstreise nach Polen auf die Idee, Auschwitz zum Zentrum der Festivitäten zu machen: Der Ort des deutschen Menschheitsverbrechens soll als Symbol für das „Nie wieder" die Überwindung von Nationalgefühlen und staatlichen Partikularinteressen fördern. Diese makaber-kuriose Konstellation wird zum Motor einer Kampagne, die Menasse mit scharf analysierendem Geschichtsbewusstsein und hohem Sinn für Komik schildert. Ein herrenloses Schwein, das zu Beginn der Geschichte durch Brüssels Straßen irrt, taucht dabei als bildkräftiger „running gag" bis zum Ende immer wieder auf.
In die Mühlen der moralisch aufgeladenen, babylonisch zerredeten Projektabwicklung geraten ein Holocaust-Überlebender, den es in ein Brüsseler Altersheim verschlagen hat, und ein Emeritus der Ökonomie, der die ideale „Hauptstadt Europas" auf dem Gelände von Auschwitz errichten möchte. Die Wege der beiden kreuzen sich auf dem Soldatenfriedhof, auf dem der Widerstandskämpfer Brunfaut begraben liegt, Großvater eines Kriminalkommissars, der einen Mord aufklären muss und dabei auf eine vatikanische Verschwörung stößt.
Bei all diesen abenteuerlichen Verknüpfungen behält Menasse souverän die Fäden in der Hand und zeichnet ein komplexes Sittenbild, in dem Slapstick und Tragik, der Ernst der europäischen Vision und der Spott über ihre Demontage sich auf schwindelerregende Weise vermischen. Dahinter erscheint in raffinierten Spiegelungen ein anderes großes europäisches Epos, Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften", der Abgesang auf die österreichisch-ungarische Monarchie – gleich einem Menetekel für die EU, das hoffentlich Fiktion bleiben wird.

Von Kristina Maidt-Zinke
Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.
Inhaltsangabe des Verlags
In Brüssel laufen die Fäden zusammen – und ein Schwein durch die Straßen.
Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie soll das Image der Kommission aufpolieren. Aber wie? Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die Idee nimmt Gestalt an – die Gestalt eines Gespensts aus der Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. David de Vriend dämmert in einem Altenheim gegenüber dem Brüsseler Friedhof seinem Tod entgegen. Als Kind ist er von einem Deportationszug gesprungen, der seine Eltern in den Tod führte. Nun soll er bezeugen, was er im Begriff ist zu vergessen. Auch Kommissar Brunfaut steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen; ≫zu den Akten legen≪ wäre zu viel gesagt, denn die sind unauffindbar. Und Alois Erhart, Emeritus der Volkswirtschaft, soll in einem Think-Tank der Kommission vor den Denkbeauftragten aller Länder Worte sprechen, die seine letzten sein könnten.
In seinem neuen Roman spannt Robert Menasse einen weiten Bogen zwischen den Zeiten, den Nationen, dem Unausweichlichen und der Ironie des Schicksals, zwischen kleinlicher Bürokratie und großen Gefühlen. Und was macht Brüssel? Es sucht einen Namen – für das Schwein, das durch die Straßen läuft. Und David de Vriend bekommt ein Begräbnis, das stillschweigend zum Begräbnis einer ganzen Epoche wird: der Epoche der Scham.
(Text: Suhrkamp Verlag)