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Buchcover Nach vorn, nach Süden

Sarah Jäger Nach vorn, nach Süden

Sarah Jäger
Nach vorn, nach Süden

Griechische Rechte bereits vergeben

Hinterm Horizont – ein ganz besonderes Roadmovie fürs Kopfkino

Wer hat jemals die Schönheit des asphaltierten Hinterhofs eines Lebensmittelmarktes so beschrieben, dass es einer Liebeserklärung gleichkommt? Spontan fällt mir der britische Autor Frank Cottrell Boyce ein, der in seinen Romanen fantastische Szenarien von Unorten entwirft. Seit neuestem kommt mir auch eine junge deutsche Autorin in den Sinn, Sarah Jäger, und ihr Debütroman „Nach vorn, nach Süden“. Und welcher deutsche Autor zelebriert einen abgefahrenen Roadtrip junger Menschen so, als sei er eine Reise zum Herzen von vom Leben und sich selbst gebeutelten Teenagern? Natürlich Wolfgang Herrndorf und sein Roman „Tschick“. Und schon wieder: Sarah Jäger.
 
Wie sicher sie sich im Milieu bewegt, wie plastisch ihre Bilder sind. Und die erfrischend lebendigen, pfiffigen Dialoge und die spannende Dramaturgie! Nicht zu vergessen: welche Liebe Sarah Jäger für ihre Charaktere empfindet, selbst für die schrägste Figur! Wie die Autorin aus Ödnis und Enge, aus Versagen und Aufbegehren, aus Tristesse und Kummer – selbstverständlich vor allem aus Liebeskummer – Hoffnung schöpft, hat wahrscheinlich viel mit ihrem Talent zu tun, sich der Geschichte unvoreingenommen zu nähern. Mit Witz, Ironie und Herz und mit Lebensklugheit – schließlich hat sie als Call-Center-Agentin, Theaterpädagogin und Buchhändlerin bereits recht unterschiedliche Welten kennengelernt. Überall im Roman ist ihre Lust zu spüren, ihre Ideen einfach in die Luft zu werfen und zu sehen, was dort oben mit ihnen passiert, bevor sie sie aufs Blatt oder in den Computer fließen lässt. Sprachgewandt und staunend nähert sie sich dem Geschehen. Als sei es ihre erste Begegnung mit dem Gesehenen. Von professionellem Dünkel keine Spur. Umso mehr von freudiger Neugierde.
 
Dabei fängt doch alles so grau in grau an, auf dem Hinterhof eines Penny-Markts irgendwo im Ruhrgebiet, wo sich einige Aushilfskräfte aus dem Laden in ihren Pausen mit Freunden treffen. Szenen, die man so oder ähnlich überall finden kann in den kleinen Asphalt-Soziotopen dieser Welt – an Tankstellen, vor Discos, auf Parkplätzen, am Fuß von Denkmälern, auf den Stufen von Waschsalons, vor Kinos und im Windschatten von Supermärkten. Junge Leute treffen sich, hängen miteinander ab, rauchen, trinken, kiffen vielleicht, und erproben gegenseitig ihr Repertoire an Jungmännlichkeit und Jungweiblichkeit – mit allen Schattierungen sozialen Verhaltens.
 
Entenarsch, die Erzählerin, ist eine Randerscheinung in der Penny-Markt-Clique – das sagt schon der ihr von der Gang zugedachte, unwiderrufliche Name, mit dem sie sich auch den Lesern vorstellt. Geduldet, aber nicht beliebt. Dabei ist die junge Frau bereits Studentin der Germanistik im zweiten Semester, besitzt als einzige einen Führerschein und ist auch sonst keineswegs auf den Kopf gefallen. Sie hat ein Auge auf den Dauerredner und Witzbold Can geworfen, der sich bald in der Abiturklasse abmühen muss. Aber der scheint sich nur für die schöne Weltenretterin Marie zu interessieren, die gerade ihren Realschulabschluss geschafft hat. Und die wiederum hat die Trennung von Jo nicht verkraftet. Noch ein paar andere schräge Gestalten, alle so zwischen 15 und 20, tummeln sich im Dunstkreis der Hauptfiguren. Deren Liebenswürdigkeit erschließt sich den Lesern erst peu à peu.
 
Dass der sechzehnjährige Jo seit einem halben Jahr verschwunden ist – einfach abgehauen – führt zum Plot der Geschichte und der beginnt mit einer recht explosiven Fahrgemeinschaft: Can und Marie und Entenarsch setzen sich in den alten Opel Corsa der Studentin und machen sich in den Sommerferien auf die Suche nach Jo. Das ist der Beginn eines verrückten Roadtrips, ja Roadmovies, wenn man das Kino im Kopf anschaltet. Die Erzählerin kann selbst nicht glauben, dass sie diesen Vorschlag einbrachte, der ihr Leben verändern sollte (aber das weiß sie natürlich noch nicht). Vom Ruhrgebiet aus geht's in die Provinz, nach Oer-Erkenschwick (schon allein deshalb, weil der Ortsname Purzelbäume auf der Zunge schlägt! Anmerkung des Schreibers). Nach Oer-Erkenschwick verschwindet man irgendwo mitten in deutschen Landen. Dann geht’s ohne Erfolg wieder nach Hause. Und wieder los, in leicht veränderter Besetzung, zu einem Punkkonzert zwischen Kuhstall und Wiese und weiter, upgegradet auf das Wohnmobil einer Band, in eine süddeutsche Stadt. Wider Erwarten fährt man von dort aus nicht weiter in den klischeebeladenen sonnigen Süden, sondern an die raue Nordsee. Erst einmal immer auf der Landstraße, denn auf der Autobahn fühlt sich Entenarsch nicht sicher.
 
Das also ist der attraktive Rahmen, in dem sich aus grauen Hinterhofmauern ein vielfältiges und buntes junges Leben entwickelt – verrückt und anrührend komisch. Das Leben zieht hinaus in die Welt, um sich selbst näher zu kommen – das ist ein altes Geschichtenmotiv. Aber dass Pavel, genannt „Unser Pavel“, derweil im Hinterhof  an einem Aussichtsturm aus Holzpaletten hämmert, um den Horizont der Penny-Markt-Clique zu erweitern, das sollte wirklich patentiert werden.
Buchcover Nach vorn, nach Süden

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.