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Buchcover Frausein

Mely Kiyak Frausein

Mit Förderung von Litrix.de auf Griechisch erschienen.

Die Schärfung des Blicks

Es gibt viele Sätze in diesem Buch, die zu zitieren sich unbedingt lohnt. Einer davon ist beispielsweise: „Das Putzfrausein ist der Referenzpunkt für alles“, und gemeint ist damit die berufliche Tätigkeit der Mutter. Zwei andere Sätze: „Das Erlesen der Welt stürzte mich regelmäßig in gedankliche Krisen. Das eigene Erleben hingegen hatte kaum Auswirkung auf meine psychische Stabilität.“ So prägnant hat lange niemand mehr über das vertrackte Verhältnis von Herkunft, Bildung und Aufstiegsmöglichkeiten geschrieben.
 
Mely Kiyak, 1976 im norddeutschen Sulingen bei Bremen geboren, ist das, was in früheren Zeiten „Gastarbeiterkind“ genannt wurde. In ihrer Kolumne „Kiyaks Deutschstunde“ auf Zeit online spart die Autorin nicht an scharfer Polemik, an Zuspitzung und Polarisierung. In ihrem Buch „Frausein“, einem gerade einmal 128 Seiten umfassenden, aber dennoch ungemein erkenntnisfördernden Text, ist von alldem nichts zu spüren. Vorsichtig, mit sprachlicher Präzision und auf hohem Reflexionsniveau schreibt Kiyak sich an ihre Biografie heran. Mit der Entdeckung von französischen Autorinnen und Autoren wie Didier Eribon, Édouard Louis und Annie Ernaux erstarkte auch in Deutschland in den vergangenen Jahren ein literarisches Klassenbewusstsein, das als Gegenbewegung zum bürgerlichen Selbstverständnis einer nichtmigrantischen Mehrheitskultur interpretiert werden kann.
 
Dieser Befund trifft nur teilweise auf „Frausein“ zu, denn Mely Kiyak hat keine allgemeingültige These im Hinblick auf gesellschaftliche Chancenungleichheit. Sie geht den umgekehrten Weg: Aus dem reinen Erzählen und Erinnern, aus den biografischen Etappen, die ohne anklagenden Impetus rekonstruiert werden, entsteht von ganz allein ein Bild, das über das rein Individuelle hinausweist.
 
Das Putzfrauendasein beispielsweise: Die Mutter putzt im Amtsgericht. Einer der Amtsrichter mag die Mutter. Als Zeichen seiner vermeintlichen Wertschätzung lässt er täglich das dick mit Butter und Teewurst bestrichene Frühstücksbrötchen, das seine Frau ihm zu Hause geschmiert hat, im Schrank liegen. „Für ihre Kinder“, sagt er, und die werden dann am Abend gezwungen, sich voller Ekel die fettige Semmel einzuverleiben. Interessant dabei ist die Begründung der Mutter: Wenn eine Autorität wie der Amtsrichter sich für die kleinen Leute interessiere, habe man ihm allein dafür Respekt und Dankbarkeit zu bezeugen. Dass der Mann in seiner Ignoranz die Unterscheidung zwischen arm sein und Hunger leiden nicht zu treffen vermochte, spricht für sich. Erst wenn das Brötchen runtergewürgt war, kam das eigentliche Abendessen auf den Tisch.
 
Sprechende Episoden dieser Art, die darüber hinaus mit unaufgeregtem Humor erzählt sind, findet Kiyak für jede ihrer Lebensphasen. Selbstverständlich ist „Frausein“ ein Buch, das der schwammigen Kategorie der Identitätserkundung zugeordnet werden kann. Wenn der Vater, ein aus der Türkei nach Deutschland eingewanderter Kurde, am Abend aus der Fabrik nach Hause kommt, entspinnt sich ein Dialog zwischen ihm und der kleinen Tochter in Frage und Gegenfrage: „Wer bin ich?“, fragt sie. „Wer bist Du?“, fragt er zurück. Die Antwort auf die Frage findet Kiyak erst später: Zum einen ist sie eine Frau, die alles, was sie über ihr Frausein wissen möchte, selbst herausfinden muss, weil ihr der Zugang zu Informationen verstellt ist. Zum anderen und vor allem aber ist sie eine Lesende und eine Schreibende. Eines der ersten migrantischen Kinder, wie sie sich erinnert, das mit deutschen Kindern in dieselbe Schulklasse durfte. Eine Jugendliche, in deren Bewusstsein das Recht auf Deutschsein hart erarbeitet werden muss. Eine intensive Leserin, die zum Studium den größtmöglichen Abstand zu ihrem Elternhaus sucht, um regelmäßige Besuche zu verhindern, und die bemerkt, dass das literaturwissenschaftliche Lesen mit ihren Erwartungen an Lektüre nichts zu tun hat. Besucht sie ihre Eltern zu Hause, wird sie aus der Küche ferngehalten: „Die Studentin soll sich nicht mit niedrigen Tätigkeiten verschwenden.“ Schließlich die unverhoffte Aufnahme am Literaturinstitut in Leipzig, wo die spätere Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller die Texte der jungen Studentin auseinandernimmt: „Ich lerne.“
 
Den erzählerischen Rahmen von „Frausein“ bildet eine rätselhafte Augenkrankheit, die Kiyak befällt; eine unerklärliche und beängstigende Eintrübung der Sehkraft. Ihr Text ist das exakte Gegenteil: „Frausein“ ist ein Programm zur Schärfung des Blicks.
Buchcover Frausein

Von Christoph Schröder

Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.