Mely Kiyak Frausein
- Carl Hanser Verlag
- München 2021
- ISBN 978-3-446-26746-6
- 128 Seiten
- Verlagskontakt
Die Schärfung des Blicks
Mely Kiyak, 1976 im norddeutschen Sulingen bei Bremen geboren, ist das, was in früheren Zeiten „Gastarbeiterkind“ genannt wurde. In ihrer Kolumne „Kiyaks Deutschstunde“ auf Zeit online spart die Autorin nicht an scharfer Polemik, an Zuspitzung und Polarisierung. In ihrem Buch „Frausein“, einem gerade einmal 128 Seiten umfassenden, aber dennoch ungemein erkenntnisfördernden Text, ist von alldem nichts zu spüren. Vorsichtig, mit sprachlicher Präzision und auf hohem Reflexionsniveau schreibt Kiyak sich an ihre Biografie heran. Mit der Entdeckung von französischen Autorinnen und Autoren wie Didier Eribon, Édouard Louis und Annie Ernaux erstarkte auch in Deutschland in den vergangenen Jahren ein literarisches Klassenbewusstsein, das als Gegenbewegung zum bürgerlichen Selbstverständnis einer nichtmigrantischen Mehrheitskultur interpretiert werden kann.
Dieser Befund trifft nur teilweise auf „Frausein“ zu, denn Mely Kiyak hat keine allgemeingültige These im Hinblick auf gesellschaftliche Chancenungleichheit. Sie geht den umgekehrten Weg: Aus dem reinen Erzählen und Erinnern, aus den biografischen Etappen, die ohne anklagenden Impetus rekonstruiert werden, entsteht von ganz allein ein Bild, das über das rein Individuelle hinausweist.
Das Putzfrauendasein beispielsweise: Die Mutter putzt im Amtsgericht. Einer der Amtsrichter mag die Mutter. Als Zeichen seiner vermeintlichen Wertschätzung lässt er täglich das dick mit Butter und Teewurst bestrichene Frühstücksbrötchen, das seine Frau ihm zu Hause geschmiert hat, im Schrank liegen. „Für ihre Kinder“, sagt er, und die werden dann am Abend gezwungen, sich voller Ekel die fettige Semmel einzuverleiben. Interessant dabei ist die Begründung der Mutter: Wenn eine Autorität wie der Amtsrichter sich für die kleinen Leute interessiere, habe man ihm allein dafür Respekt und Dankbarkeit zu bezeugen. Dass der Mann in seiner Ignoranz die Unterscheidung zwischen arm sein und Hunger leiden nicht zu treffen vermochte, spricht für sich. Erst wenn das Brötchen runtergewürgt war, kam das eigentliche Abendessen auf den Tisch.
Sprechende Episoden dieser Art, die darüber hinaus mit unaufgeregtem Humor erzählt sind, findet Kiyak für jede ihrer Lebensphasen. Selbstverständlich ist „Frausein“ ein Buch, das der schwammigen Kategorie der Identitätserkundung zugeordnet werden kann. Wenn der Vater, ein aus der Türkei nach Deutschland eingewanderter Kurde, am Abend aus der Fabrik nach Hause kommt, entspinnt sich ein Dialog zwischen ihm und der kleinen Tochter in Frage und Gegenfrage: „Wer bin ich?“, fragt sie. „Wer bist Du?“, fragt er zurück. Die Antwort auf die Frage findet Kiyak erst später: Zum einen ist sie eine Frau, die alles, was sie über ihr Frausein wissen möchte, selbst herausfinden muss, weil ihr der Zugang zu Informationen verstellt ist. Zum anderen und vor allem aber ist sie eine Lesende und eine Schreibende. Eines der ersten migrantischen Kinder, wie sie sich erinnert, das mit deutschen Kindern in dieselbe Schulklasse durfte. Eine Jugendliche, in deren Bewusstsein das Recht auf Deutschsein hart erarbeitet werden muss. Eine intensive Leserin, die zum Studium den größtmöglichen Abstand zu ihrem Elternhaus sucht, um regelmäßige Besuche zu verhindern, und die bemerkt, dass das literaturwissenschaftliche Lesen mit ihren Erwartungen an Lektüre nichts zu tun hat. Besucht sie ihre Eltern zu Hause, wird sie aus der Küche ferngehalten: „Die Studentin soll sich nicht mit niedrigen Tätigkeiten verschwenden.“ Schließlich die unverhoffte Aufnahme am Literaturinstitut in Leipzig, wo die spätere Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller die Texte der jungen Studentin auseinandernimmt: „Ich lerne.“
Den erzählerischen Rahmen von „Frausein“ bildet eine rätselhafte Augenkrankheit, die Kiyak befällt; eine unerklärliche und beängstigende Eintrübung der Sehkraft. Ihr Text ist das exakte Gegenteil: „Frausein“ ist ein Programm zur Schärfung des Blicks.

Von Christoph Schröder
Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.
Inhaltsangabe des Verlags
„Ich bin eine Frau. Ich bin es gerne. Davon möchte ich erzählen.“ Was Frausein bedeutet, zeigt sich in jedem einzelnen Leben: Mely Kiyak erzählt von den Gesprächen über Weisheit und Nichtwissen, die sie als Mädchen mit dem Vater führte. Von den Cousinen, die vom Begehren erzählten. Vom Aufwachsen zwischen Ländern und Klassen, zwischen „Herkunftsgepäck“ und Neugier auf unbekannte Erfahrungen. Vom Alleinsein, von Selbsterkundung, von Familie. Was ist Weiblichkeit, wenn man den öffentlichen Blick überwindet und zurückbleibt mit sich selbst? Aufrichtig, lebenslustig, zärtlich und entwaffnend klug erinnert Mely Kiyak daran, dass es die Verhältnisse sind, die einem beibringen, wie man liebt und lebt.
(Text: Carl Hanser Verlag)