Verena Keßler Die Gespenster von Demmin
- Hanser Berlin
- Berlin 2020
- ISBN 978-3-446-26784-8
- 229 Seiten
- Verlagskontakt
Verena Keßler
Die Gespenster von Demmin
Griechische Rechte bereits vergeben
Vor gar nichts Angst haben
Die fünfzehnjährige Larissa weiß genau, was sie einmal werden will: Kriegsreporterin. Für diesen harten und gefährlichen Beruf übt sie jeden Tag. Sie hängt sich mit den Knien an Zweigen auf, hält minutenlang die Luft an und will sogar Waterboarding ausprobieren. „Wer aushalten kann, muss vor gar nichts Angst haben“ ist sie überzeugt, doch eigentlich unterdrückt sie damit noch ganz andere Schmerzen: Den Tod des Bruders, der in einem Kindergrab auf dem Friedhof liegt, den Verlust des Vaters, der Frau und Tochter verlassen hat, die Schwäche der Mutter, die zu häufig ihre Liebhaber wechselt. Und auch die niedergedrückte Atmosphäre der Stadt Demmin, die sich, von jungen Leuten verlassen, zur Geisterstadt entwickelt und ihre schreckliche Historie immer noch nicht aufgearbeitet hat.
Die Gespenster der Vergangenheit, der kollektive Suizid von fast tausend Menschen am Ende des Zweiten Weltkriegs werden durch eine zweite Person greifbar. Larissas Nachbarin, die neunzigjährige Frau Dohlberg, soll ins Altenheim umziehen und durchlebt beim Abschied von ihrem Haus noch einmal grausame Erinnerungen. Ihre Mutter war auf der Flucht vor den Russen mit den drei Töchtern ins Wasser gegangen, zwei Mädchen überlebten. Nun zieht die alte Frau mutig und autark ihre Konsequenzen.
Auf beiden Erzählebenen grundieren ernste Themen die Handlung. Trotzdem ist „Die Gespenster von Demmin“ ein Buch voller Hoffnung! Das liegt an der Haltung der beiden Protagonistinnen, die, jede auf ihre Weise, ihren Problemen trotzig und manchmal auch stur die Stirn bieten. Die sich ihren Optimismus bewahren, ihren Lebensmut und den Willen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Verena Keßler gelingt ein labiles Gleichgewicht zwischen den diversen Konflikten, die Larissa mit sich herumschleppt, und entspannten, ja glücklichen Momenten mit ihrer besten Freundin Sarina oder dem neuen Freund Timo. Da blitzt zwischendurch so viel Witz, Humor und Lebensfreude auf, dass man sich am Schluss keine Sorgen mehr um das Mädchen macht. (Ein Happy-End bekommen wir zwar nicht, das wäre zu billig, aber berechtigte Hoffnung darauf, dass vieles sich zum Guten entwickeln kann. Mit der Mutter, mit deren neuem Partner und dem Vater.)
Ein zweiter Grund, warum sich dieser sensible Jugendroman so gut liest, ist sein ganz eigener Ton. Auch wenn sich die beiden Erzählebenen formal unterscheiden – Larissa berichtet in der Ich-Form, über die alte Nachbarin wird in der 3. Person erzählt – so sind sie sprachlich doch verwandt. Verena Keßler erzählt unsentimental, eher knapp und trotz der dramatischen Themen nie larmoyant. Bei Larissa führt das zu einer analytischen, pointierten oft ironischen Darstellung ihrer Situation, sie bewahrt sich ihren ganz eigenen Humor. Und die alte Frau hat noch mit neunzig Jahren einen klugen, distanziert-klaren Blick auf das – und nicht nur auf ihr eigenes – Leben.
Parallele Motive schaffen eine zusätzliche Verbindung zwischen Historie und heute. Beide, Larissa und die damals gleichaltrige Frau Dohlberg, ertrinken beinahe. Beide leiden unter dem Verlust von Schwester bzw. Bruder, beide gehen sie ihren eigenen Weg. Verena Keßler erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte, die nicht nur heute und in Deutschland möglich ist, sondern überall. Jugend und Alter, Krieg und Frieden, Liebe und Tod – die großen Themen der Literatur – werden hier im Rahmen eines Romans verhandelt, der seine schwierigen Themen mit ungewöhnlich sicherer Hand ineinander spiegelt. Demmin mit seinen Kriegstraumata und seinen in den Startlöchern stehenden Jugendlichen ist überall, „Die Gespenster von Demmin“ erzählen gegen das Vergessen an und weisen zugleich in die Zukunft. Ein vielschichtiges und schönes Jugendbuch, ein tolles Debüt!
Von Sylvia Schwab
Sylvia Schwab ist Hörfunkjournalistin und hat sich auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert. Sie ist Jurorin bei den "Besten 7" von Deutschlandfunk und Focus und arbeitet für den Hessischen Rundfunk, den Deutschlandfunk und Deutschlandradio-Kultur.
Inhaltsangabe des Verlags
Wie sehr bestimmt die Geschichte unsere Gegenwart? Verena Keßlers Debüt über die Haltlosigkeit des Erwachsenwerdens „brummt nur so vor Lebendigkeit. Traurig, witzig, abgründig – Bombe!“ Stefanie de Velasco
Larry lebt in einer Stadt mit besonderer Geschichte – Ende des Zweiten Weltkriegs fand in Demmin der größte Massensuizid der deutschen Geschichte statt. Für Larry ist ihre Heimatstadt aber vor allem eins: langweilig. Sie will so schnell wie möglich raus in die Welt und Kriegsreporterin werden. Während Larry mit den Unzumutbarkeiten des Erwachsenwerdens kämpft, steht einer alten Frau der Umzug ins Seniorenheim bevor. Beim Aussortieren ihres Hausstands erinnert sie sich an das Kriegsende in Demmin und trifft eine folgenschwere Entscheidung.
Mit Leichtigkeit und Witz erzählt Verena Keßler von Trauer und Einsamkeit, von Freundschaft und der ersten Liebe. Ein Roman über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und die Möglichkeit, sie zu überwinden.
(Text: Hanser Berlin)