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Buchcover Rückwärtsland

Henning Wagenbreth Rückwärtsland

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen

Rückwärts, wir müssen nach vorn!

Henning Wagenbreths Reise durchs Rückwärtsland

„Nehcam gignägkcür enreg nam edrüw nebeL mi seginie.“ Das heißt, vorwärts gelesen: Einiges im Leben würde man gerne rückgängig machen. Einen Menschen um Verzeihung bitten, dem man Unrecht getan hat. Ein Fettnäpfchen flott umgehen, in das man einst kräftig und mit bösen Folgen getreten ist. Marty McFly in „Zurück in die Zukunft“ und manch andere Anhänger von Zeitreisen haben das ja immer wieder versucht. Wie man weiß: mit mäßigem Erfolg. Andernfalls wäre das Raum-Zeit-Kontinuum heftig durcheinandergewirbelt worden.

Jetzt gibt es einen neuen Versuch einer ganz besonderen Zeitreise, die das Kontinuum keinesfalls beschädigt, es nur für einige Lese-Augenblicke zum Stillstand zu bringen scheint, damit die Betrachter durchatmen und nachdenken können. Unternommen hat diesen Versuch Henning Wagenbreth, Professor an der Universität der Künste in Berlin, mit seinem lyrischen Bilderbuch „Rückwärtsland“. Dass sich einer der besten deutschen Illustratoren und Plakatkünstler der Gegenwart in einer Zeit großen Wirrwarrs und ständig steigender Zahlen von Fettnäpfchen mit solchen Rückwärtsreisen beschäftigt, ist gut nachvollziehbar. Dass ihn dazu eine Methode aus Kindertagen inspiriert, ist sehr sympathisch. Für Kinder war es früher ein Riesenspaß, den auf Super 8 gebannten Familienurlaubsfilm auf der Leinwand rückwärts laufen zu sehen. Zurück zu den Anfängen. Ob sich dadurch die Geschichte veränderte? Eher unwahrscheinlich. Aber man hatte das Gefühl, noch einmal Rückwärtsbild für Rückwärtsbild zu erfahren, wie die gefilmte Geschichte zu dem wurde, was sie schließlich geworden ist. Und kurz darüber nachzudenken, was man an welcher Stelle hätte anders machen können.

Das Prinzip funktioniert bei Wagenbreth – offensichtlich ein Mensch mit viel Humor und Selbstironie – wunderbar, in einer Kombination aus gereimten Versen und skurrilen Cartoons, die sich wie die berühmten Neuruppiner Bilderbögen aus dem 19. Jahrhundert lesen, mit denen dem Volk auf den Marktplätzen gar grausige Moritaten über das wahre Leben zum Besten gegeben wurden. Die streng geometrischen, farbfreudigen und kontrastreichen Szenen und Figuren wirken so, als seien sie einem menschlichen Bestiarium entsprungen, aus dem sich nicht nur die Comic-Avantgarde um Art Spiegelman Mitte des 20. Jahrhunderts bedient hat. Auch Anklänge an die Karikatur-Kunst des 19. Jahrhunderts glaubt man zu finden, an Wilhelm Buschs Bildergeschichten und die Figuren des Struwwelpeter-Schöpfers Heinrich Hoffmann etwa: Schräge Gestalten, deren Körper wie aufs Papier plattgedrückt erscheinen und deren Physiognomien zusammengeflickt sind wie Monster aus Frankensteins Werkstatt. Häufig sieht man die Menschenkarikaturen in Profilperspektive. Man könnte vermuten, die Welt werde von Einäugigen beherrscht. Die Reimverse, die das jeweilige Szenarium vorstellen, sind – zweizeilig oder vierzeilig – so eingängig, dass man auf der Stelle gerne selbst weiterreimen wollte: „... Und du könntest all die Sachen / noch einmal und besser machen! / Plötzlich wäre uns're Welt / ziemlich auf den Kopf gestellt.“

Henning Wagenbreth stellt die Welt auf den Kopf. Nein, besser: Er dreht das Zeit-Raum-Kontinuum um, wendet den Zeitstrahl in die entgegengesetzte Richtung und setzt das Rückwärts-Geschehen in den verschiedensten Lebensbereichen mit avantgardistisch anmutenden Comicbildern in Szene: Was wäre, wenn in unserem Alltag alles rückwärts liefe? „Und schon ist es kurz vor sieben, / eben war es noch um acht. / Worum du mich grad gebeten, / hab' ich dir bereits gebracht.“ Was wäre, wenn in der Zeitung nicht stünde, was gestern geschah, sondern was morgen geschieht? Was passiert im Rückwärtsland bei einem Autounfall, mit einem im Orkan geborstenen Schiff, im Bombenkrieg, beim Fußballspiel, in der Lotterie, in der Fabrik, beim Mittagessen und bei einem Verbrechen? Ein zerborstenes Schiff und seine ertrunkene Mannschaft steigen aus den Fluten, alles setzt sich wieder zusammen. Man segelt zurück in die Vergangenheit, nach Hause, zu Eltern, Frau und Kind. Oder: Aus dem Inferno einer kriegszerstörten Stadt sieht man Schritt für Schritt die Menschen wieder lebendig werden und die Soldaten zurück in die Kaserne ziehen. „Dort lernt man das Exerzieren, / möglichst wenig nachzudenken, / ohne Zögern zu parieren, / stolz die Landesfahne schwenken.“

Dieser Satz beweist, dass Henning Wagenbreth in seiner großartig verrückten Reise durchs Rückwärtsland zwar die Chance auf kleine Erleuchtungen über sich selbst und die Welt sieht: „Du hast vieles neu sortiert, / das Vergang'ne korrigiert. / Du hast über dich gelacht, / Fehler wieder gut gemacht.“ Aber ebenso kann es passieren, dass wir, ohne nachzudenken, wieder den Vorwärtsknopf des Filmprojektors drücken und der Tag mit 24 Bildern pro Sekunde seinen Lauf nimmt, bis zum nächsten: „Nehcam gignägkcür enreg nam edrüw nebeL mi seginie.“
Buchcover Rückwärtsland

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.