Svenja Flaßpöhler Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren
- Klett-Cotta Verlag
- Stuttgart 2021
- ISBN 978-3-608-98335-7
- 240 Seiten
- Verlagskontakt
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen
Zeige deine Wunde?
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler sorgte schon 2018 für großes Aufsehen. In ihrer Streitschrift „Die potente Frau“ kritisierte sie die MeToo-Kampagne, die Frauen vor allem als Opfer darstelle. Flaßpöhler forderte dagegen – prononciert und provokativ – ein neues Bewusstsein über aktive Weiblichkeit und die Handlungsmöglichkeiten von Frauen.
Auch in ihrem neuen Buch bürstet Flaßpöhler Debatten unserer Zeit gegen den Strich. Es hinterfragt „moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“. Gemeint ist die so genannte Kultur der „Wokeness“, in der die Welt im Licht persönlicher Verletzungen und Verletzbarkeiten betrachtet wird. Wer „woke“ ist, empfindet und verurteilt oft alle traditionellen Beziehungen als weiß und männlich dominiert, als rassistisch, kolonialistisch, unterdrückend und gewalttätig. Damit geht die Forderung einher, unser Miteinander habe sich dieser neuen Empfindlichkeit anzupassen, nicht zuletzt sprachlich.
Doch Svenja Flaßpöhler geht es nicht um ein Bashing der linken Identitätspolitik. Vielmehr postuliert sie eine gesellschaftliche Spaltung zwischen „woken“, die sich selbst gern als so einzigartig, zart und empfindlich wie Schneeflocken betrachten, und neoliberal eingestellten Menschen, die dem alten Motto folgen, jeder sei seines Glückes Schmied: man müsse sich nur anstrengen, sich eher schützen und verhärten, statt fortwährend die eigenen Wunden vorzuzeigen.
Widerstandskraft, also Resilienz, versus Sensibilität, das ist der Gegensatz, den Flaßpöhler in unserer Debattenlandschaft sieht. Sie ist überzeugt, dass dieser Streit den gesellschaftlichen Zusammenhalt extrem gefährdet. Mit ihrem Buch möchte sie kulturhistorisch aufklären, wie diese scheinbar gegensätzlichen Streitpole miteinander verbunden sind.
Insofern ist Svenja Flaßpöhlers aktuelles Buch versöhnlicher als ihre Streitschrift „Die potente Frau“. Sie möchte die Polemiken und Frontstellungen zwischen „woke und widerständig“ oder „links und rechts“ – allesamt grobe Verallgemeinerungen in einer komplexen Gemengelage – beiseitelassen und zeigen, wie sich unsere Sensibilität als kulturelle Errungenschaft entwickelt hat. Dazu greift die Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“ gezielt und zugleich ungezwungen ins Bücherregal der Geistesgrößen aus Kulturgeschichte, Literatur, Philosophie und Psychoanalyse.
Polemisch betrachtet, sind es vor allem alte, weiße Männer, auf die Flaßpöhler sich bezieht. Sie steigt ein mit dem Soziologen Norbert Elias, der in „Über den Prozess der Zivilisation“ (1939) die Verhöflichung der Ritter beschrieben hat – und sie kontrastiert sehr eindrücklich den noch vor-höfischen, unzivilisierten, barbarischen Ritter Johan im 11. Jahrhundert mit einem Jan von heute, der das absolute Gegenteil von Johan ist: Jan lebt in jeder Hinsicht achtsam, natürlich vegan, er ist Lehrer und sagt „Schüler_innen“; und er wird, wie auch Ritter Johan, lustvoll karikierend beschrieben. Tiefgründiger wird es, wo Flaßpöhler ein Streitgespräch zwischen den Philosophen Friedrich Nietzsche und Emmanuel Lévinas inszeniert. Oder wo sie über Samuel Richardsons Briefroman „Clarissa“ aus der Mitte des 18. Jahrhunderts schreibt, für die Autorin ein MeToo-Roman avant la lettre.
Besonders erhellend und pointiert wird es dort, wo sie sich auf die feministische Philosophin Judith Butler bezieht. Mit Butler argumentiert Flaßpöhler gegen neue und zunehmend differenziertere Identitätsbezeichnungen, weil die jemanden etwa als „non-binär“, „queer“ oder „trans“ festschreiben, anstatt Identität immer als Inszenierung, als Rollenspiel offenzuhalten, wie Butler das vorschlägt. Einmal mehr verteidigt Svenja Flaßpöhler hier das generische Maskulinum. Das ist gerade in der philosophisch-dialektischen Auseinandersetzung mit Butler eine erfrischende Lektüre.
Möglicherweise unterschätzt Svenja Flaßpöhler die Empfindlichen, die sensiblen „Schneeflocken“, die sich selbst gar nicht als so schwach und wund verstehen, wie Flaßpöhler sie darstellt. Nicht zufällig gehört zum Bild der Schneeflocken die Lawine, die überaus mächtig werden kann. Dennoch steckt in diesem Buch viel Denkstoff über die Ambivalenzen zwischen Sensibilität, Zwang und Aggression, über die verborgenen Verbindungen zwischen larmoyanter Sensibilität und arroganter Härte – und über die Kraft und die Grenzen der Sprache, die sich als Verständigungsmittel und nicht als Privatsprache entwickelt hat.

Von Natascha Freundel
Natascha Freundel ist Journalistin und Redakteurin im rbbKultur Radio. Dort plant und moderiert sie die Podcast- und Radio-Debatte „Der Zweite Gedanke“. Sie schreibt auch Literaturkritiken und moderiert regelmäßig Kulturveranstaltungen, u.a. bei den „Deutsch-israelischen Literaturtagen“.
Inhaltsangabe des Verlags
»Sensibilität ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Im Kampf um Anerkennung unterdrückter Gruppen spielt sie eine wichtige Rolle. Aber sie kann auch vom Progressiven ins Regressive kippen. Über diese Dialektik müssen wir nachdenken, um die gesellschaftliche Polarisierung zu überwinden.«
Svenja Flaßpöhler
Mehr denn je sind wir damit beschäftigt, das Limit des Zumutbaren neu zu justieren. Wo liegt die Grenze des Sagbaren? Ab wann ist eine Berührung eine Belästigung? Svenja Flaßpöhler tritt einen Schritt zurück und beleuchtet den Glutkern des Konflikts: die zunehmende Sensibilisierung des Selbst und der Gesellschaft.
Menschheitsgeschichtlich steht die Sensibilisierung für Fortschritt: Menschen schützen sich wechselseitig in ihrer Verletzlichkeit, werden empfänglicher für eigene und fremde Gefühle, lernen, sich in fremde Schicksale hineinzuversetzen und mit anderen zu solidarisieren. Doch diese Entwicklung hat eine Kehrseite: Anstatt uns zu verbinden, zersplittert die Sensibilität die Gesellschaft. Erleben wir gerade den Kipppunkt fortschreitender Sensibilisierung? Svenja Flaßpöhler erzählt die Geschichte des sensiblen Selbst aus philosophischer Perspektive, beleuchtet die zentralen Streitfragen der Zeit und arbeitet den Grund für die prekäre Schieflage heraus: Weil die Widerstandskraft bis heute mit kalter Verpanzerung assoziiert wird, gilt sie als Feindin der Sensibilität. Aber stimmt das? »Sensibel« ist ein hochaktuelles, philosophisches und gleichzeitig unterhaltsames Buch, das die Sensibilität dialektisch durchleuchtet und zu dem Schluss kommt: Die Resilienz ist die Schwester der Sensibilität. Die Zukunft meistern können sie nur gemeinsam.
(Text: Klett-Cotta Verlag)