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Buchcover Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters

Christiane Hoffmann Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters

Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungs­förderung ins Italienische (2022 - 2024) an.

Fluchttrauma und Geschichtskrieg

In Deutschland ist Christiane Hoffmann als toughe Kriegsberichterstatterin bekannt. Lange arbeitete sie für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Spiegel aus dem Iran, aus Afghanistan, aus Moskau und seinen damaligen Kriegsschauplätzen in Tschetschenien. Inzwischen ist sie Regierungssprecherin unter SPD-Kanzler Scholz. Sie kennt das politische Tagesgeschäft ebenso wie das tägliche Politgeschäft unter instabilen Regierungen. Jetzt hat sie ein sehr bewegendes Buch über die verlorene Heimat ihrer Familie geschrieben und damit einen dreifachen Sachbuch-Rittberger bewerkstelligt. Denn „Alles, was wir nicht erinnern“ ist ein Buch, das einfach zu lesen ist und dabei hohe Komplexitätsgrade durchläuft.

Ausgangspunkt ist die Flucht eines damals neunjährigen Jungen aus seinem schlesischen Heimatdorf, das im heutigen Polen liegt. Der Junge ist Christiane Hoffmanns Vater. Seine Fluchtroute wandert die Tochter nun Jahrzehnte später nach. Nahezu 500 Kilometer durch Sturm und Kälte, durch Gestrüpp und Moor von schlesisch Rosenthal bis böhmisch Egerland und eben später bis nach Wedel in Schleswig-Holstein. Und zuhause wird darüber, was typisch ist für die Kriegsgeneration, kaum ein Wort gesprochen: „Sie klagen nicht über das, was sie erlitten haben. Dafür brauchen sie auch nicht darüber zu sprechen, was sie getan haben. Man hat bezahlt, und damit muss es jetzt auch gut sein.“ Gut ist natürlich gar nichts. Das Trauma der Flucht wird nicht verarbeitet, sondern verdrängt und tritt bei der 1967 geborenen Tochter in Form von Alpträumen wieder auf. Zwei Szenarien plagen sie: überhastetes Kofferpacken und Bilder einer Flucht.

„Gut“ ist übrigens auch nichts für die Familie, die den Hof der Hoffmanns 1945 übernimmt. Die neuen Rosenthaler hatten Zwangsarbeit in einer deutschen Marmeladenfabrik leisten müssen und als sie zurückkamen, sagte man ihnen, ihr Dorf in der Westukraine sei jetzt nach Schlesien verlegt worden. So wurde Rosenthal erzwungenermaßen zu ihrer neuen Heimat. Für uns Leser werden die polnisch-ukrainischen Beziehungen anhand dieser kleinen Episode in ihrer historischen Tragweite transparent. Man versteht, wie verwoben die Schicksale all jener Menschen sind, die Opfer der geopolitischen Verschiebungen des 20. Jahrhunderts geworden sind.

Die Angst vor „dem Russen“ war dabei das Schreckensbild der Hoffmanns. Wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert zieht es deren Tochter nach dem Abitur nun genau dort hin. Zum Russen. Christiane lernt die Sprache des Feindes – übrigens bei der berühmten Dostojewski-Übersetzerin Svetlana Geier –, zieht nach Moskau, heiratet dort. Und fragt sich Jahre später: Wieso beschäftige ich mich seit über 40 Jahren mit dem Osten? Was steckt dahinter? Der Schlüsselsatz an die eigenen Eltern lautet: „Ich bin krank, von dem Heimweh, das ihr nie hattet.“ Darum also geht es in diesem Buch: an die Quelle des Unglücks zurückzukehren, die Trauer endlich zuzulassen und damit den Familienfluch loszuwerden.

Christiane Hoffmann konnte vom Ukrainekrieg noch nichts wissen, als sie die Fahnen zu ihrem Buch abgegeben hat. Nun trifft es mit seiner Fluchtthematik auf gespenstische Weise unsere Gegenwart. Flucht als reale Erfahrung. Und Flucht als Versehrung, die Generationen betrifft. Um hier noch etwas genauer hinzusehen, bleibt die Autorin nicht bei der eigenen Familiengeschichte stehen, sondern liefert wandernd einen Lagebericht aus der polnischen und tschechischen Provinz. Hier begegnet sie deutschstämmigen Revanchisten ebenso wie liebenswürdigen Europahassern, resignierten Heimatmuseumsdirektoren, und engagierten Jungeuropäern. Alles in allem aber ist das Bild von vielen Rissen durchzogen. Es sind vor allem Desinformation und Ressentiment, die es schwer machen, in diesen Regionen des Ostens die Idee blühender europäischer Landschaften attraktiv zu machen. „Woher soll Europa die Kraft nehmen, das alles zu heilen?“, fragt Hoffmann einmal.

Auch stilistisch leistet „Alles, was wir nicht erinnern“ eine Menge: Das Buch ist über weite Teile als Brief an den 2018 verstorbenen Vater gerichtet. Der eindringliche Korrespondenzton wechselt sich dann aber immer wieder ab mit Erlebnispassagen der versierten Reporterin Christiane Hoffmann. Sie führt ihre Leser mit sicherer Hand durch ideologisch vermintes Gelände. In einem polnischen Hotelzimmer zappt sie in eine russische Talkshow, in der Anfang 2020 erst die neuartige Mutation aus dem Reich der Viren diskutiert wird und dann eine offenbar noch viel gefährlichere aus dem Reich des Politischen. Sie wurde vom ukrainischen Präsidenten in die Welt gesetzt, und muss – so hat es den Anschein – nun schleunigst wieder eingefangen werden. Der Ukrainer hatte sich kritisch über den Hitler-Stalin-Pakt geäußert. „Sie wollten uns unseren Sieg wegnehmen, eines der Symbole unseres nationalen Stolzes“, heißt es jetzt aufgeregt im Fernsehen. „Sie ereifern sich, sie sind alle einer Meinung, trotzdem schreien sie, als würde ihnen ständig jemand widersprechen.“

Angesichts der aktuellen Ereignisse erhält dieses vielgestaltige Erinnerungsbuch eine ungeheure Dringlichkeit. Denn Christiane Hoffmann spürt nicht nur dem verdrängten Schmerz ihrer Familie nach, sondern auch dem Schmerz einer Weltregion. Sie spricht vom „Geschichtskrieg“, der jenseits der Oder schon seit langem tobt. Dabei gehe es nicht um die Deutschen, die ihre Schuld längst eingestanden hätten. Dort sei man damit beschäftigt, „die Restschuld zu verteilen“. Wer die aktuelle Nachrichtenlage verfolgt, weiß, dass Christiane Hoffmann mit dieser Diagnose recht hat. Man wünscht ihrem Buch eine möglichst weite Verbreitung, denn es leistet mit seinem historischen und persönlichen Fokus einen wichtigen Beitrag zum Verständnis unserer politischen Gegenwart.
Buchcover Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters

Von Katharina Teutsch

​Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.