Schnelleinstieg: Zum Inhalt springenZur Hauptnavigation springenZur Sprachnavigation springen

Buchcover Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung

Fabio Wolkenstein Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung

Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungs­förderung ins Italienische (2022 - 2024) an.

Gegen Liberalismus und Sozialismus: Eine Geschichte der Christdemokratie

Fabio Wolkenstein ahnt, dass sein Buch über „Die dunkle Seite der Christdemokratie“ mit dem Untertitel „Geschichte einer autoritären Versuchung“, selbst Gegenstand der politischen Auseinandersetzung werden könnte: Eine kritische Analyse des Verhältnisses der Christdemokratie zur liberalen Demokratie setzt sich dem Verdacht aus, politisch motiviert zu sein. Wolkenstein, der Professor für Transformationen der Demokratie an der Universität Wien ist, versichert aber im Vorwort seines Buchs, „weder anklagen, noch verzeihen, sondern erst einmal verstehen“ zu wollen.

Wolkenstein zeichnet in seiner Studie die Geschichte des politischen Katholizismus in Europa von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart nach. Seinen Schwerpunkt legt er dabei auf die Phase der Entstehung katholischer und im engeren Sinn christdemokratischer Bewegungen und Parteien seit dem späten 19. Jahrhundert.
Er zeigt, dass eine breite Strömung katholischer Parteipolitik bis zum Zweiten Weltkrieg nicht in der Demokratie, sondern in der Monarchie, im Ständestaat oder gar in der Diktatur die bessere Staatsform erblickte und sich mit dieser demokratieskeptischen bis -feindlichen Positionierung die antimoderne Haltung der römisch-katholischen Kirche zu eigen machte. Zugleich aber hält er fest: „Aus historischer Sicht haben konservative Parteien oft eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung der Demokratie gespielt.“ Wir haben es also mit einer politischen Strömung zu tun, die widersprüchliche programmatische und ideologische Tendenzen in sich vereint, unter anderem auch, um als Volksparteien unterschiedliche Milieus repräsentieren zu können.

Schon am Verhältnis des politischen Katholizismus zur Kirche wird dies deutlich:  Wolkenstein zeichnet nach, wie sich Ideen und Formulierungen aus verschiedenen
päpstlichen Enzyklika in den programmatischen Äußerungen vieler katholischer Intellektueller und Politiker wiederfinden. Zugleich achteten viele europäische Parteien, die sich als katholische Parteien begriffen, penibel darauf, politisch unabhängig von Papst und Kurie zu bleiben.

Die westeuropäische Christdemokratie, wie wir sie seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Gestalt dezidiert demokratischer Parteien kennen, kann nicht für sich beanspruchen, die „wahre Christdemokratie“ zu sein. Der ungarische Ministerpräsident und Vorsitzende der ursprünglich liberalen Partei Fidesz, Viktor Orbán, der sich inzwischen zum Bewahrer christdemokratischer Werte stilisiert, könne sich wiederum zurecht darauf berufen, dass die westeuropäischen Christdemokraten „schon lange keine traditionell christdemokratische Politik betreiben würden“, meint Wolkenstein.

Der politische Katholizismus war seit Ende des 19. Jahrhunderts stark von der christlichen Soziallehre beeinflusst, die ihrerseits eine Antwort darstellte auf die rasante Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften und die politische Selbstorganisation der Arbeiterinnen und Arbeiter in sozialistischen Parteien. Christlich, genauer: katholisch inspirierte Politik war seither eine Politik, die sich gegen Liberalismus und Sozialismus gleichermaßen wandte. Noch heute könnte man etwa in der Politik der deutschen Unionsparteien – die als quasi-ökumenisches Projekt einen christdemokratischen Sonderfall darstellen – ein fernes Echo der Antwort sehen, die Papst Leo XIII. in der Enzyklika „Rerum Novarum“ auf die scharfen Klassengegensätze seiner Zeit gab: „Die Antwort des Papstes auf die soziale Frage ist nicht etwa die Abschaffung der Ungleichheit, sondern ihre harmonische Verwaltung“, schreibt Wolkenstein.

Um gesellschaftliche Harmonie herzustellen, bedarf es aber nicht zwingend demokratischer Verhältnisse. Überraschend sei weniger, dass es im politischen Katholizismus viele undemokratische Tendenzen, sondern eher, „dass es auch demokratische Bewegungen gab“, analysiert Wolkenstein. Erst die Erfahrung der Totalitarismen von Stalinismus und Nationalsozialismus lässt die Demokratie für die Päpste und viele Katholiken in einem besseren Licht erscheinen. Dennoch ist eine christlich-soziale Politik der Harmonisierung gesellschaftlicher Verhältnisse keineswegs auf den konstitutionellen Rahmen der Demokratie angewiesen, wie Wolkenstein anhand der Geschichte verschiedener Parteien zeigt: „Auch lange nach dem Zweiten Weltkrieg existierten in Europa noch dezidiert autoritäre katholische Regime, die sich der gesellschaftlichen Integration, dem Klassenkompromiss, der Akkommodation von Interessensgegensätzen und damit implizit auch dem Pluralismus verschrieben haben.“ Als Beispiel nennt Wolkenstein den „Estado Novo“ des asketischen, gläubigen portugiesischen Technokraten Salazar, zu dem viele Politiker christdemokratischer Parteien, darunter auch der deutschen Union, beste Beziehungen pflegten. Viele Protagonisten des politischen Katholizismus befanden auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dass auch ein autoritärer Ständestaat einem harmonischen Interessensausgleich zuträglich sein kann.

Die aktuelle Wiederbelebung des christlichen Autoritarismus in Ungarn und Polen erscheint Wolkenstein daher nur als „ein besonders sichtbares Beispiel für das zyklisch wiederkehrende Erstarken traditionalistischer und bisweilen auch demokratiefeindlicher Kräfte innerhalb politischer Parteien, die sich der Verteidigung christlicher Werte verschrieben haben“. Am Ende seines ideengeschichtlich aufschlussreichen, stringent argumentierenden und gut lesbaren Buchs zeigt Wolkenstein, dass viele Christdemokraten etwa die Politik Viktor Orbáns noch heute für unterstützenswert und mit einer christdemokratischen Programmatik kompatibel erachten. Mit Empfehlungen ans christdemokratische Lager hält sich der Autor weitgehend zurück, kommt aber doch zum Schluss, dass die Christdemokraten gut daran täten, weniger nach „Ideen aus früheren Jahrhunderten zu kramen“, und stattdessen einer Parole Franz Josef Strauß‘ zu folgen und „an der Spitze des Fortschritts zu marschieren“.

Von Ulrich Gutmair

Ulrich Gutmair ist Kulturredakteur der taz. Vor kurzem ist die englische Übersetzung seines Buchs über die Nachwendezeit in Berlin bei Polity Books erschienen: "The First Days of Berlin. The Sound of Change."