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Buchcover Die Schuhe meines Vaters

Andreas Schäfer Die Schuhe meines Vaters

Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungs­förderung ins Italienische (2022 - 2024) an.

Kampf gegen sich selbst

Am Anfang steht ein Bild, das der Schriftsteller Andreas Schäfer im Gedächtnis hat: Jeden Sonntag lief sein Vater auf dem Sportplatz in Zeppelinheim, einige Kilometer südlich von Frankfurt, wo die Familie wohnte, seine Runden. Der Vater trug dabei immer ein weißes oder beiges Oberhemd, in dem er normalerweise auch zur Arbeit ging. Das Hemd war noch nicht schmutzig genug für die Wäsche, also wurde es als Sportdress benutzt. Der Vater rennend, im Hemd, der Junge daneben stehend, die Runden laut zählend. Darin steckt schon eine Menge.
Noch ein Anfang: Im Juni 2018 besucht der Vater, mittlerweile 81 Jahre alt, seinen Sohn in Berlin. Eine vor 20 Jahren ausgeheilte Tumorerkrankung war zurückgekommen; die Ärzte vermuteten Metastasen in den Knochen und im Kopf des Vaters. Vor der entscheidenden Untersuchung in Frankfurt geht der Vater noch einmal seine gewohnten Wege, Theater, Café, Spaziergänge. Zurück in Frankfurt, erleidet der Vater während der Biopsie in der Uniklinik eine Gehirnblutung und fällt ins Koma. Die Ärzte rufen Andreas Schäfer, den Sohn, und seine seit Jahrzehnten vom Vater getrennt lebende Mutter in die Klinik, um zu entscheiden, wann die Geräte abgeschaltet werden. Es geht nicht mehr um ein Weiterleben, sondern nur noch um den Zeitpunkt des Todes.

Diese bedrängende Situation ist der Ausgangspunkt für ein bemerkenswertes Buch. Andreas Schäfer nähert sich in kreisenden Bewegungen, in Erinnerungen und Rekonstruktionen dem Mysterium an, das sein Vater stets für ihn war. Ein egozentrischer Mensch auf der einen Seite; hochempfindlich, sich stets angegriffen fühlend, den Sohn vor anderen Menschen in Verlegenheit bringend. Andererseits aber auch ein in sich abgekapselter, zurückgezogener Charakter, der nichts mehr liebte als lange, einsame Wanderungen. Ein Mann, der nach der Trennung von seiner griechischen Ehefrau alleine im 16. Stock eines dezent heruntergekommenen Hochhauses in Frankfurt-Sachsenhausen lebte, obwohl sein Einkommen ganz andere Möglichkeiten eröffnet hätte.
Andreas Schäfer fällt kein Urteil; er klagt nicht an, sondern belässt seinen Vater in all den Ambivalenzen, in denen er gelebt hat. Das schafft Gerechtigkeit und auch eine Form von dokumentarischer Objektivität, die den Text weit über das Private hinaushebt. Der Vater, Jahrgang 1936, in Berlin in eine Metzgersfamilie hineingeboren, wächst bei Onkel und Tante in Friedrichshafen und in Zeppelinheim auf. Der Onkel ist Kurt Schönherr, Obersteuermann auf dem Luftschiff Hindenburg. Er überlebt die Katastrophe von Lakehurst. Die Eltern des Vaters werden sich später von ihrem Sohn lossagen, als er eine griechische Frau heiratet. Der Vater bleibt in allem, was der Sohn über ihn herausfindet, ein lebender Widerspruch: Er ist unterwegs in der Welt, unternimmt ausgedehnte Reisen nach Ägypten und nach Pakistan; listet auf seinen Wandertouren penibel die zurückgelegten Kilometer auf. In Andreas Schäfers Erinnerungen leidet er unter den permanenten Auseinandersetzungen mit der Mutter, provoziert sie aber regelmäßig mit bösartigen Kommentaren.

Wie nebenher arbeitet Andreas Schäfer einen geradezu paradigmatischen Lebensentwurf eines Kriegskindes heraus: Die traumatischen Erfahrungen von Ausbombung und Flucht. Und dann der Übergang in die junge Bundesrepublik mit all den Wirtschaftswundereffekten: Betriebswirt. Diplom-Kaufmann. Anstellung als Revisor bei der Coop AG. Erwerb eines Eigenheims, Familiengründung, zwei Kinder. „Die Schuhe meines Vaters“ ist zum einen ein Buch der Erinnerung und der Recherche in einem fremden Leben, zum anderen aber auch eine Selbstbefragung des Schriftstellers Andreas Schäfer und das Eingeständnis des eigenen Scheiterns: Der Mann, dessen Tod er betrauert und den er aufrichtig geliebt hat, entzieht sich auch post mortem seinen Annäherungsversuchen. Es bleibt eine Lücke.

In den Notizen und Papieren seines Vaters stößt Andreas Schäfer beim Leerräumen der Wohnung auf den Durchschlag eines Briefes, den der Vater ihm vor knapp 20 Jahren geschrieben hat: „Ich habe“, so liest Schäfer, „mein halbes Leben gekämpft, nicht immer gegen etwas oder wen, sondern auch um, sozusagen gegen die Umstände, häufig allerdings auch gegen mich selbst.“ Von diesem Kampf, dem Kampf der Aufbaugeneration, erzählt Andreas Schäfer mit großer Dezenz und präzisem Blick. So wird das Vaterbuch zum Deutschlandbuch.
Buchcover Die Schuhe meines Vaters

Von Christoph Schröder

Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.