Andreas Schäfer Die Schuhe meines Vaters
- DuMont Buchverlag
- Köln 2022
- ISBN 978-3-8321-8258-8
- 208 Seiten
- Verlagskontakt
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Italienische (2022 - 2024) an.
Kampf gegen sich selbst
Noch ein Anfang: Im Juni 2018 besucht der Vater, mittlerweile 81 Jahre alt, seinen Sohn in Berlin. Eine vor 20 Jahren ausgeheilte Tumorerkrankung war zurückgekommen; die Ärzte vermuteten Metastasen in den Knochen und im Kopf des Vaters. Vor der entscheidenden Untersuchung in Frankfurt geht der Vater noch einmal seine gewohnten Wege, Theater, Café, Spaziergänge. Zurück in Frankfurt, erleidet der Vater während der Biopsie in der Uniklinik eine Gehirnblutung und fällt ins Koma. Die Ärzte rufen Andreas Schäfer, den Sohn, und seine seit Jahrzehnten vom Vater getrennt lebende Mutter in die Klinik, um zu entscheiden, wann die Geräte abgeschaltet werden. Es geht nicht mehr um ein Weiterleben, sondern nur noch um den Zeitpunkt des Todes.
Diese bedrängende Situation ist der Ausgangspunkt für ein bemerkenswertes Buch. Andreas Schäfer nähert sich in kreisenden Bewegungen, in Erinnerungen und Rekonstruktionen dem Mysterium an, das sein Vater stets für ihn war. Ein egozentrischer Mensch auf der einen Seite; hochempfindlich, sich stets angegriffen fühlend, den Sohn vor anderen Menschen in Verlegenheit bringend. Andererseits aber auch ein in sich abgekapselter, zurückgezogener Charakter, der nichts mehr liebte als lange, einsame Wanderungen. Ein Mann, der nach der Trennung von seiner griechischen Ehefrau alleine im 16. Stock eines dezent heruntergekommenen Hochhauses in Frankfurt-Sachsenhausen lebte, obwohl sein Einkommen ganz andere Möglichkeiten eröffnet hätte.
Andreas Schäfer fällt kein Urteil; er klagt nicht an, sondern belässt seinen Vater in all den Ambivalenzen, in denen er gelebt hat. Das schafft Gerechtigkeit und auch eine Form von dokumentarischer Objektivität, die den Text weit über das Private hinaushebt. Der Vater, Jahrgang 1936, in Berlin in eine Metzgersfamilie hineingeboren, wächst bei Onkel und Tante in Friedrichshafen und in Zeppelinheim auf. Der Onkel ist Kurt Schönherr, Obersteuermann auf dem Luftschiff Hindenburg. Er überlebt die Katastrophe von Lakehurst. Die Eltern des Vaters werden sich später von ihrem Sohn lossagen, als er eine griechische Frau heiratet. Der Vater bleibt in allem, was der Sohn über ihn herausfindet, ein lebender Widerspruch: Er ist unterwegs in der Welt, unternimmt ausgedehnte Reisen nach Ägypten und nach Pakistan; listet auf seinen Wandertouren penibel die zurückgelegten Kilometer auf. In Andreas Schäfers Erinnerungen leidet er unter den permanenten Auseinandersetzungen mit der Mutter, provoziert sie aber regelmäßig mit bösartigen Kommentaren.
Wie nebenher arbeitet Andreas Schäfer einen geradezu paradigmatischen Lebensentwurf eines Kriegskindes heraus: Die traumatischen Erfahrungen von Ausbombung und Flucht. Und dann der Übergang in die junge Bundesrepublik mit all den Wirtschaftswundereffekten: Betriebswirt. Diplom-Kaufmann. Anstellung als Revisor bei der Coop AG. Erwerb eines Eigenheims, Familiengründung, zwei Kinder. „Die Schuhe meines Vaters“ ist zum einen ein Buch der Erinnerung und der Recherche in einem fremden Leben, zum anderen aber auch eine Selbstbefragung des Schriftstellers Andreas Schäfer und das Eingeständnis des eigenen Scheiterns: Der Mann, dessen Tod er betrauert und den er aufrichtig geliebt hat, entzieht sich auch post mortem seinen Annäherungsversuchen. Es bleibt eine Lücke.
In den Notizen und Papieren seines Vaters stößt Andreas Schäfer beim Leerräumen der Wohnung auf den Durchschlag eines Briefes, den der Vater ihm vor knapp 20 Jahren geschrieben hat: „Ich habe“, so liest Schäfer, „mein halbes Leben gekämpft, nicht immer gegen etwas oder wen, sondern auch um, sozusagen gegen die Umstände, häufig allerdings auch gegen mich selbst.“ Von diesem Kampf, dem Kampf der Aufbaugeneration, erzählt Andreas Schäfer mit großer Dezenz und präzisem Blick. So wird das Vaterbuch zum Deutschlandbuch.
Von Christoph Schröder
Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.
Inhaltsangabe des Verlags
Wie kann man den Vater gehen lassen, wenn man den Zeitpunkt selbst bestimmen muss?
Im Sommer 2018 kommt der Vater von Andreas Schäfer zu Besuch nach Berlin. Kurz zuvor hat er erfahren, dass ein vor langer Zeit überwundener Krebs zurückgekehrt ist, doch Beschwerden hat er keine. Er geht in die Oper, unternimmt einen Ausflug ans Meer, sitzt auf dem Sofa des Sohnes und sagt verwundert: »Dass da was ist!« Aber was? Was ist da im Kopf des Vaters? Er fährt nach Frankfurt zurück, wo er seit der Trennung von der griechischen Mutter vor Jahrzehnten allein lebt. Auch zur Biopsie geht er allein, als wollte er sein Einzelkämpferleben erst im letztmöglichen Moment aufgeben. Am Tag der Untersuchung meldet sich der Oberarzt der Neurochirurgie und teilt dem Sohn mit, dass der Vater eine Hirnblutung erlitten habe: »Ihr Vater wird sterben«, sagt er. »Er liegt im künstlichen Koma. Sie müssen entscheiden, wann wir die Maschinen abstellen.« Wie damit umgehen, wenn einem das Leben des eigenen Vaters in die Hände gelegt wird? Wie sich verabschieden, wenn man den Zeitpunkt selbst bestimmen soll? ›Die Schuhe meines Vaters‹ ist ein ebenso erschütterndes wie zu Herzen gehendes Buch über Väter und Söhne und die unerwarteten Wege der Trauer. Aufrichtig, poetisch und einfühlsam erzählt Andreas Schäfer vom eigenen Schockzustand – vor allem aber nähert er sich dem Vater an, dem leidenschaftlich gern Reisenden, dem Kriegstraumatisierten, glücksgewillt und verloren zugleich, und ihrem besonderen, nicht immer einfachen Verhältnis.
(Text: DuMont Buchverlag)