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Buchcover Elvis Gursinski und der Grabstein ohne Namen

Kirsten Reinhardt Elvis Gursinski und der Grabstein ohne Namen

Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungs­förderung ins Italienische (2022 - 2024) an.

Stark genug, um schwach zu sein

„Elvis Gursinski und der Grabstein ohne Namen“ – Titel und Cover von Kirsten Reinhardts neuem Kinderbuch machen neugierig und ziehen unmittelbar hinein in eine Geschichte voller Komik, Kreativität, Zauber und ein wenig Schauerromantik. Wobei die Autorin bei den Themen bleibt, die ihr auch in ihren früheren Büchern am Herzen lagen: Familie, Freundschaft, Außenseitertum und außergewöhnliche Begebenheiten, die Kinder herausfordern und sie auf die Probe stellen.

Elvis Gursinski lebt mit seiner Mutter im spukig-verlotterten Gärtnerhaus eines geschlossenen Friedhofs im Berliner Wedding. Die Miete ist gering, dafür muss die Familie die uralten Gräber und Wege pflegen, der Vater allerdings wurde hier depressiv und ist ausgezogen. Elvis‘ Mutter ist Illustratorin mit halluzinatorischen Fähigkeiten - meist im Arbeitsrausch und nur selten ansprechbar. Während der Sommerferien ist Elvis darum allein verantwortlich für Ordnung und Sauberkeit auf dem Friedhof.

Der dünne, zurückhaltende Junge ist in der Schule ein Außenseiter, auf dem Friedhof allerdings in seinem Element. Er liebt die morbide Atmosphäre und die zerbrochenen Grabsteine, er hat eine telepathische Begabung und spricht mit den Toten bzw. ihren Geistern. Doch eines Tages dringt laut, stark und selbstbewusst Dalia in seinen kleinen Kosmos ein, die Enkeltochter der Magierin Madame al Nour. Wie Feuer und Wasser sind die beiden Kinder, aber das geheimnisvoll-magische Abenteuer ist nun nicht mehr aufzuhalten und endet mit einer wunderbaren Freundschaft inmitten einer ungewöhnlichen Großfamilie.

Ergänzt wird das skurrile Personal um die beiden eigenwilligen Kinder und ihre mit Zauberkräften begabten Verwandten durch einen sprechenden Pelzkragen, ein ständig keckerndes Eichhörnchen und eine Menge sehr lebendiger toter Friedhofsbewohner. Und wenn auch der surreale Schluss des Kinderromans in der gruseligen Gruft recht dick aufgetragen ist, wirkt die ganze Geschichte in ihrer Mischung aus Witz und Ernst, authentischem Gestus – anhand der Straßennamen wird das Geschehen genau verortet – und spielerischer Phantastik überzeugend.

Dazu trägt ein Feuerwerk aus launigen Dialogen, lustigen Sprachspielereien und dann wieder zarten Beschreibungen von Gefühlen und Befindlichkeiten bei. Jedes Kind kann sich in Elvis hineindenken, der sich irgendwie „falsch“ fühlt auf der Welt, manchmal einsam, oft überfordert und immer ein wenig fremd. Fremd nicht nur, weil er und seine Eltern anders sind als die meisten Leute, sondern auch, weil sein melancholischer Vater Türke ist und sein Emigrantenschicksal wohl nie richtig verarbeitet hat.
Eines aber kann Baba Gursinski wunderbar: Geschichten erzählen wie aus Tausendundeiner Nacht, die zu Herzen gehen und die Phantasie anregen. Und das ist wohl auch Kirsten Reinhardts Intention: Kindern eine Geschichte zu erzählen, die zugleich komisch und traurig ist, die – zwischen Realismus und Magie schwebend – die Imagination in Gang setzt und die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Erfindung, Fakten und Fiktion verwischt.

Am Schluss findet der kleine tote Hansi, der vor Jahrzehnten heimlich auf dem Friedhof verscharrt wurde, endlich seine Grabesruhe dadurch, dass Dalia allen anwesenden Geistern seine Lebensgeschichte erzählt. Da spüren auch kleine Leser, dass jeder Mensch auf der Welt, ob in der Oberwelt oder Unterwelt, seine ganz individuelle Geschichte braucht, um sein eigenes Leben zu er-leben. Und dass jeder Mensch jemanden braucht, der dieser Geschichte zuhört, um sich gesehen und verstanden zu fühlen. Geschichten, gefundene und erfundene, sind Leben.

Ein paar feine, kluge Sprüche bleiben beim Leser auch dann hängen, wenn der turbulent-überdrehte Schluss des Kinderromans langsam verblasst. „Nicht wir suchen unsere Aufgaben aus. Unsere Aufgaben suchen uns aus“, eine Erkenntnis, die nicht nur in der Literatur, sondern auch im Leben gilt. Oder „Es gibt genug Liebe für alle“ – eine ebenso allgemeingültige Einsicht. Und schließlich die paradoxe Erkenntnis, dass Stärke manchmal auch bedeuten kann, „schwach zu sein“, weil erst Schwäche uns zu empathischen Menschen macht. Eine schönere Grundidee gibt es nicht für ein Kinderbuch. Auch das gilt überall.     
Buchcover Elvis Gursinski und der Grabstein ohne Namen

Von Sylvia Schwab

​Sylvia Schwab ist Hörfunkjournalistin und hat sich auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert. Sie ist Jurorin bei den "Besten 7" von Deutschlandfunk und Focus und arbeitet für den Hessischen Rundfunk, den Deutschlandfunk und Deutschlandradio-Kultur.