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Buchcover Gittersee

Charlotte Gneuß Gittersee

Übersetzungsförderung
Italienische Rechte bereits vergeben.

Das Abenteuer des Verrats

Die DDR ist seit mehr als 30 Jahren verschwunden – geschrieben wird über das untergegangene Land aber weiterhin. Mittlerweile auch von einer Generation von Autorinnen und Autoren, die das sozialistische Experiment auf deutschem Boden gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennen, sondern lediglich aus Familienerzählungen oder gar aus Lektüren. Was daraus resultieren kann, ist ein neuer, frischer Blick, eine veränderte Perspektive, anders gesagt: Es sind neue Geschichten, die allerdings nicht mehr aus erster Hand authentisch verbürgt sind.

Zwei Bücher sind es, die in diesem Debattenraum im Jahr 2023 von den Feuilletons ausgiebig besprochen und überwiegend gelobt wurden: Zum einen Anne Rabes Roman „Die Möglichkeit von Glück“, in dem die aufgewühlte (ost-)deutsche Gegenwart als ein Resultat autoritärer Charakterformung beschrieben wird. Zum anderen „Gittersee“, der erste Roman von Charlotte Gneuß, der sowohl mit dem Preis der Ponto-Stiftung als auch mit dem „aspekte“-Literaturpreis bedacht wurde, den beiden wohl wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige Debüts. Die Frage nach der Beglaubigung des Erzählten hat im Fall von Charlotte Gneuß einen zusätzlichen, speziell deutsch-deutschen Aspekt: Gneuß wurde 1992 im schwäbischen Ludwigsburg geboren. Ihre Eltern und Großeltern, auf deren Erzählungen sie sich im Nachwort des Romans bezieht, haben allerdings ihr Leben in der DDR verbracht. Ihr Buch basiert also auf Erlebtem, schwingt sich aber auf dieser Grundlage zu einer komplett fiktionalen, eigenständigen Erzählung auf.

Gittersee ist einer der äußeren Stadtteile von Dresden, im Südwesten gelegen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in den Schächten unter Gittersee zunächst Steinkohle abgebaut, bevor das Bergwerk seit dem Jahr 1967 zur Förderung von Uranerzen weiterbetrieben wurde. Ein Arbeiterstadtteil. Karin, so heißt Gneuß‘ Protagonistin und Ich-Erzählerin, ist zu Beginn des Romans 16 Jahre alt, geht zur Schule und lebt mit ihrer Großmutter, den Eltern und ihrer kleinen Schwester, einer zwei Jahre alten Nachzüglerin, in eher beengten Verhältnissen in Gittersee. Es ist das Jahr 1976. Die Biografien der Erwachsenen werden nicht bis ins Letzte auserzählt, doch aus Andeutungen und Gesprächen, aus Streitereien unter den Eltern wird deutlich, dass deren intellektuelle Fertigkeiten einmal Perspektiven auf andere Lebensläufe zugelassen haben als die der täglichen Plackerei im Schichtdienst irgendwelcher Betriebe.
„Gittersee“ spitzt sich zu einer Geschichte um Flucht, Verrat und am Ende gar Mord zu. Dadurch, dass Charlotte Gneuß stets dicht am Bewusstsein ihrer Heldin bleibt, entsteht eine große Detailfülle. Karin hat einen scharfen Blick, kann aber die Zusammenhänge nicht immer erkennen. Und manchmal will sie es auch nicht. Im Zentrum des Romans steht ein Dreieck von Figuren: Karin, ihr Freund Paul und dessen Freund Rühl. Paul und Rühl arbeiteten gemeinsam im Schacht. Karin mag Rühl nicht sonderlich und umgekehrt. Paul träumt von einer Künstlerexistenz, nicht in Gittersee, aber in einer anderen Welt. Einmal will Paul mit Rühl und Karin einen Ausflug machen, auf seinem Mofa, seiner Schwalbe, für ein Wochenende rüber nach Tschechien. Er zeigt ihr Geld, das er gespart und im Reifen seines Mofas versteckt hat. Sie versteht nicht. Die Erlaubnis für den Ausflug bekommt sie von ihren Eltern nicht; dafür steht wenige Tage später die Staatssicherheit vor der Tür und will Karin befragen. „Republikflucht“, das Wort wird bald im Raum stehen. Rühl ist alleine zurückgekommen und hüllt sich in Schweigen über das, was geschehen ist.

Das ist der Auftakt des Romans; eine Exposition, die eine Kettenreaktion in Gang setzt und eine geradezu dämonische Figur ins Spiel bringt: Wickwalz hat keinen Vornamen, aber eine Funktion bei der Staatssicherheit. Gerüchte ranken sich um ihn bei Karin und ihren Mitschülerinnen. Wickwalz umschmeichelt Karin. Was er von ihr will, ist den Lesern früher klar als ihr selbst. Mehr als zehn Prozent der inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter, so weiß man heute, waren minderjährig. In „Gittersee“ lässt sich nachlesen, wie einladend und verführerisch das Gemisch aus jugendlicher Abenteuerlust, Naivität und dem Gefühl, behilflich sein zu wollen, sich anfühlen kann. Die Ungeheuerlichkeit des Verrats ist so geschickt eingebunden in ein Alltags- und Realitätsgeflecht, dass sie wie der Normalfall erscheint.

„Gittersee“ entwickelt eine große Sogkraft. Es ist ein Roman, der auch vom systemimmanenten Verlust von Unschuld erzählt – mit einer höchst überraschenden Schlussvolte, geschrieben in einem pathosfreien Tonfall. So klingt die neue, eindrückliche Stimme einer Autorin, die sich jeder Ost-West-Zuordnung entzieht.
Buchcover Gittersee

Von Christoph Schröder

Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.