Dorothee Elmiger Die Holländerinnen
- Hanser Berlin
- Berlin 2025
- ISBN 978-3-446-28298-8
- 160 Seiten
- Verlagskontakt
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Polnische (2025 - 2027) an.
Im Dschungel verschwunden – Dorothee Elmiger erzählt von zwei jungen Touristinnen und einem Theaterprojekt in Panama
Im Jahr 2014 verschwinden im Dschungel von Panama zwei junge Holländerinnen spurlos. Wochen später findet man nur noch Reste ihrer Skelette. Der reale Fall konnte bis heute nicht aufgeklärt werden. Zwei Handys wurden gefunden, die eine seltsame Fotodokumentation der letzten Tage im Leben der Studentinnen offenbaren. Am 1. April sieht man die beiden jungen Frauen noch mit hochgereckten Daumen am Beginn ihrer Dschungelwanderung. Ein anderer Tourist hatte das Foto geschossen. Dann gibt es erst wieder sieben Tage später ein Zeichen. Am 8. April drückt jemand mitten in der Nacht gleich neunzig Mal auf den Auslöser der Kamera. Auf den Bildern ist nur Vegetation erkennbar, hier und da eine Haarsträhne, die ins Bild ragt, eine Plastiktüte an einem Ast. Wollten die jungen Frauen ein Signal geben? Wollten sie etwas dokumentieren? Waren sie überhaupt noch am Leben? Der Fall beschäftigt die panamaischen Behörden sowie eine Weltgemeinde von Privatdetektiven bis heute. Er bildet die Ausgangslage für Dorothee Elmigers Spurensuche, die wie auch schon das Vorgängerbuch „Aus der Zuckerfabrik“ Essay, Fiktion und Dokumentation zu einer mitreißenden und vor allem denkenden Erzählung kompiliert.
Natürlich weiß auch Dorothee Elmiger nicht, was 2014 im Dschungel von Panama geschehen ist. Niemand weiß das. Aber wie alle guten Romane, die eine philosophische Recherche darstellen, leben auch „Die Holländerinnen“ vom Glanz einer nicht näher zu definierenden Ahnung. Elmiger entwickelt den Stoff der niederländischen Studentinnen mit ihren eigenen Mitteln fort zu einem Forschungstagebuch, das manchmal an den dokumentarischen Horrorfilm „Blair Witch Project“ aus den neunziger Jahren erinnert. Dann wieder lässt sie alles auf die Frage nach der dunklen Seite der menschlichen Existenz zulaufen und leitet schließlich über zu der ästhetischen Anstrengung, das Reale in Kunst auflösen zu wollen oder zumindest die Versuche anderer berühmter Künstler anklingen zu lassen, die versucht haben, das Leben in Kunst aufzulösen. Alle, auf die das Etikett „Genie und Wahnsinn“ passt, torkeln durch diese mittelamerikanische Tropenkulisse: Joseph Conrad und Francis Ford Coppola, Werner Herzog, Klaus Kinski und Christoph Schlingensief.
Ihnen allen zeigte sich an den Orten ihres künstlerischen Schaffens das „erratische, grundlose Wesen der Welt“ deutlicher als anderswo. Auch Werner Herzog hatte es heraufbeschworen und an ihm den Begriff der „ekstatischen Wahrheit“ geschärft, die dort zu finden sei, wo physische und psychische Grenzen überschritten würden: Zum Beispiel am Set mit dem irren Klaus Kinski, der gewissermaßen als menschliche Naturgewalt auf den Drehs zu den Kultfilmen „Aguirre“ und „Fitzcarraldo“ herumgewütet hatte, wie wir wiederum aus Herzogs Making-Off „Mein liebster Feind“ wissen. Kinski darf auch bei Elmiger als Konquistador Aguirre den legendären Filmsatz sagen: „Wenn ich, Aguirre, will, dass die Vögel tot von den Bäumen fallen, dann fallen die Vögel tot von den Bäumen herunter.“
Nun ja. Dieses Buch hat so seinen Witz. Nicht nur, wenn ein pathetischer „Theatermacher“ von der Kunst fordert, alles müsse „da rein“. Sondern auch, wenn eine fiktive französische Schriftstellerin auf einer Amazonasreise ihrem einheimischen Liebhaber einen Vortrag über Wohlstandsscham hält. Trapenard habe sich in einem langen Exkurs ergangen, heißt es im Roman, über die „europäische Einsicht oder Empfindung“, dass man große Schuld auf sich geladen habe und alles auf verwerflichen Prämissen und Praktiken beruhe – „die Turnschuhe, Immanuel Kant, die Erfindung des Flugzeugs, das Mitleid und unsere elektronischen Geräte, die Kategorien und Systeme der Wissenschaft überhaupt die gesamte abendländische Erforschung der Welt.“ Nichts, heißt es weiter, halte, was es einmal versprochen habe.
Das Glück dieses Romans ist, dass er nichts halten kann, weil er auch nichts verspricht. Jedes Zitat, das sich darin findet, jede Idee, jede Figur, jedes Motiv, jeder Kalauer löst ein geselliges Assoziationsgewitter aus. Das unheimliche Momentum von Gewalt und Femizid bei Roberto Bolaño und David Lynch drängt sich zwischen die Zeilen. Ebenso ein vom venezolanischen Dschungel überforderter Homo Faber, der (unwissentlich) Inzest mit der eigenen Tochter begeht, was einen bei der Gelegenheit auch an Ingeborg Bachmann und ihr schwieriges Verhältnis zu Max Frisch denken lässt. Immerhin ist die seit Jahren in New York lebende Autorin Dorothee Elmiger Schweizerin. Einmal heißt es in den „Holländerinnen“, dass es im Leben darum gehe, „die Verstrickungen, Verbindungen, das Synchrone und scheinbar Zufällige“ zu sehen. Dieser Roman sieht es nicht nur, er führt es auf – zusammen mit den Lesern. Deswegen ist der Roman in einem schlüssigen Konjunktiv verfasst, der einem jederzeit die Unsicherheit von allem, was erzählbar ist, vor Augen führt.
Von Katharina Teutsch
Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.
Inhaltsangabe des Verlags
Mit blinkenden Warnlichtern fährt die Erzählerin, eine namenlose Schriftstellerin, an den Straßenrand, als ein unerwarteter Anruf sie erreicht. Am Apparat ist ein gefeierter Theatermacher, der sie für sein neuestes Vorhaben zu gewinnen versucht – ein in den Tropen angesiedeltes Stück, die Rekonstruktion eines Falls. Wenige Wochen später bricht sie auf, um sich der Theatergruppe auf ihrem Gang ins tiefe Innere des Urwalds anzuschließen. Dorothee Elmiger erzählt eine beunruhigende Geschichte von Menschen und Monstren, von Furcht und Gewalt, von der Verlorenheit im Universum und vom Versagen der Erzählungen.
(Text: Hanser Berlin)
