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Bücherwelt
Frühjahrsliteratur 2025: Maximale Gegenwartsempfindlichkeit

Paoli, Bacharevic
© Matthes & Seitz, © Voland & Quist

Zum 21. Mal wurde am 27. März der Preis der Leipziger Buchmesse vergeben. Ein Preis, der einzigartig, anspruchsvoll und verbindend ist, nicht zuletzt, weil er in gleich drei Kategorien vergeben wird: der Belletristik, der Essayistik/Sachbuch und der Übersetzung. Er erzählt davon, wie wichtig das Lesen genommen werden kann und muss und wie wichtig das ernsthafte Gespräch über Literatur ist, über die Wortkunst, die ein Gespräch erst möglich macht. Und er erzählt etwas über die Gegenwartsempfindlichkeit der Literatur, diesem schönen langsamen, zugleich altmodischen und heißen Medium, das als Speicher, Resonanzraum, Diskursentzünder wirkt.

Etwas über 500 Einreichungen sind in diesem Jahr auf uns sieben Juror*innen zugekommen, und wir haben uns mit wachen Augen jeweils an unserer Seite wissen müssen, denn beim Lesen für den Preis ist uns als Jury die Welt entgegengekommen, zum Fürchten. Die Bücher, die wir lasen, wurden nicht selten selbst aus Krieg und Verfolgung geschrieben, sensibel für alltägliche Misogynie, klimatische Katastrophen. Wir lasen, während um uns herum weiter unvorstellbare Geschichte geschrieben wurde. Es bleibt schrecklich und unheimlich, in „post-normalen“ Zeiten zu leben, wie sie der Philosoph Guillaume Paoli diagnostiziert hat: „der Verstand hinkt der Wirklichkeit hinterher“ („Geist und Müll“, 2023 sowie „Etwas besseres als der Optimismus“, 2025; Matthes & Seitz Berlin), und der Stapel der wahnsinnigen Momente wird mit jedem Blick in die Social-Media-Timeline höher.

Weshalb handeln so viele der nominierten Bücher vom Krieg? Das wurden wir als Jurymitglieder nicht nur einmal gefragt, und die Antwort war immer diese: es ist kein Schwerpunkt, den wir gesetzt haben, diesen Schwerpunkt setzt die Welt.

Adamowitsch, Meller, Rastorgueva © Aufbau, © dtv, © Matthes & Seitz

Den Leipziger Preis zur Europäischen Verständigung, mit dessen Vergabe traditionell die Buchmesse eröffnet wird, bekam in diesem Jahr Alhierd Bacharevič für seinen Roman „Europas Hunde“ (Voland & Quist), ein Buch, das in seiner belarussischen Heimat erst gefeiert wurde, bis an oberster Stelle genau hingelesen wurde. Die wortmächtige und wilde Saga führt in sechs Teilen nach Minsk sowie auf eine Ostseeinsel und nach Berlin, während Russland als ein finsteres, alles in sich einverleibendes Imperium beschrieben wird. 2017 ist das Buch erschienen, die zweite Auflage wurde dann bereits mit Traktoren in die Erde eingepflügt, der Autor wohnt mittlerweile in Berlin. Der Übersetzer Thomas Weiler, der den Roman aus dem Belarussischen, Russischen und aus einer Phantasiesprache namens „Balbuta“ übertragen hat, wurde in Leipzig für ein anderes Buch mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Übersetzung“ bedacht. In „Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten“ (Aufbau Verlag) von den Autor*innen Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik erzählen Überlebende von den Wehrmachtsverbrechen der Deutschen in Belarus. Zum ersten Mal nun auch auf Deutsch zugänglich, setzt dieses Buch Menschen ein Denkmal, die im wahrsten Sinne des Wortes durchs Feuer gegangen sind.

Es kann in diesen Tagen ein Trost sein, dass der Krieg erst spät zum festen Bestandteil der menschlichen Geschichte wurde. Davon berichten der Archäologe Harald Meller, der Historiker Kai Michel und der Evolutionsbiologe Carel van Schaik in ihrem schwungvollen Gemeinschaftswerk „Die Evolution der Gewalt“ (dtv). Das eindringliche Fazit: Krieg liegt nicht in der Natur des Menschen. Sie hat lange ohne Krieg existiert und könnte es wieder tun. Den Preis für das beste Sachbuch bekam in diesem Jahr Irina Rastorgueva für „Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung“ (Matthes & Seitz Berlin). Sie führt mit unerbittlicher Anschaulichkeit vor, wie Putins Propaganda-Maschinerie funktioniert; wie Lügen, Aggressionen und Widersprüche die Russische Realität destabilisieren und durch ein nahezu undurchdringliches Spiegelkabinett ersetzen. Viele Bücher werfen derzeit einen Blick zurück, um mehr oder weniger deutlich Parallelen zur Gegenwart erscheinen zu lassen. Beispielhaft sei Jens Biskys kluge und elegant geschriebene Studie „Die Entscheidung: Deutschland 1929 bis 1934“ (Rowohlt) genannt, ein vielstimmiges Panorama, in dem Politiker*innen und Journalist*innen zu Wort kommen, genauso wie Nationalist*innen und Sozialdemokrat*innen, Literat*innen und Jurist*innen. Biskys akribisch recherchiertes Buch zeigt: Das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg Hitlers entfalteten sich nicht mit der Unweigerlichkeit einer griechischen Tragödie. „Die Entscheidung“ ist eine kluge und sicher erzählte Absage an die Rede von den „Weimarer Verhältnissen“. Und eine Mahnung, dieses Mal die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Bisky, Nebauer, Röhnert © Rowohlt, © Rowohlt © Arco

„Wir sind daran gewöhnt, die Welt zu verlieren: das ist unsere Form, in ihr zu leben“ so fasst die Philosophin Eva von Redecker unseren aktuellen Zustand zusammen und macht darauf aufmerksam, dass wir die Gewöhnung unterbrechen müssen. Neue Bücher, die sich mit unserer Umwelt, der Klimakatastrophe und unserem Verhältnis zur Natur beschäftigen, verbreiten diese Hoffnung. Der Star der deutschen Klimaaktivist*innenszene Luisa Neubauer etwa fragt „Was wäre, wenn wir mutig sind?“ (Rowohlt) und öffnet den Blick für die Machtkämpfe und den Lobbyismus hinter der Klimakrise, fragt in ihrer Ermutigungsschrift danach, wieso wir so schwerfällig sind im Umdenken. Eine neue Art des Nature Writing fordert Jan Röhnert in „Wildnisarbeit“ (Arco Verlag), indem er aufzeigt, dass diese nie vom Schreibtisch aus allein getan wurde. Bei seiner Wildnisarbeit begegnet der Autor Menschen und Werken, in denen das Tun Hand in Hand geht mit dem Schreiben über das, was sich nur im Offenen ereignet. Ein neuer Band der Naturkunden-Reihe im Verlag Matthes & Seitz bringt indes die „Birken“ nahe – eine elegante und nonchalante Aufforderung der Autorin Steffi Memmert-Lunau, diese allüberall wachsenden Bäume als Retterinnen des Waldes zu begreifen, die Artenreichtum zurückbringen und den Verlusten des Klimawandels entgegentreten.

Es ist beeindruckend, wie das Thema Ostdeutschland in den vergangenen Jahren auf den Buchmarkt gespült wurde. Sicherlich hat dies damit zu tun, dass sich eine neue Generation daran macht, über die DDR zu schreiben, die sie gar nicht mehr genau miterlebt hat. Es mischen sich die Stimmen der Zeitzeug*innen mit denen der zweiten oder dritten Generation – ein veritabler Chor. Beispielhaft stehen hier etwa Ines Geipel mit „Fabelland“ (S. Fischer)Ilko-Sascha Kowalczuk mit „Freiheitsschock“ (C.H. Beck), der unter anderem dagegen anschreibt, dass die DDR immer schöner wird, je länger sie her ist. Die Diktatur bleibt in diesem Buch eine Diktatur. Die Herausgeberinnen Maren Wurster und Franziska Hauser haben in der Anthologie „Ost*West*Frau“ (Frankfurter Verlagsanstalt) eines der spannendsten Projekte auf dem Sachbuchmarkt gestartet, das den Osten ausleuchtet: wie unterschiedlich nämlich Feminismus in Ost und West gedacht wurde. Weitere junge Stimmen im Chor sind Philipp Baumgarten und Annekathrin Kohout, die in „Ostflimmern“ (Mitteldeutscher Verlag) mithilfe von Fotografien, Gedichten, Kurzgeschichten und Essays ein Bild vom Gegenwartsgefühl einer Generation entwerfen, die hin und her gerissen ist zwischen Ost und West auf der Suche nach der eigenen Identität. In der Belletristik sind exemplarisch Annett Gröschner mit „Schwebende Lasten“ (C.H. Beck), die eine Kranfahrerin und Blumenbinderin mit Wucht und Poesie aufs Papier bringt, und Jakob Heins „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste“ (Kiepenheuer & Witsch) zu nennen – letzteres ein absurd-komischer Roman über eines der größten deutschen Geheimnisse: Wie nur brachten die Ostler den bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß dazu, mit einem Milliardenkredit ihr bankrottes Land zu retten?

Memmert-Lunau, Geipel, Kowalczuk © Matthes &Seitz, © S. Fischer, © C.H. Beck

Hauser, Wurster, Baumgarten, Kohout, Gröschner © Frankfurter Verlagsanstalt, © Mitteldeutscher Verlag, © C.H. Beck

Wer schreibt, mutet sich und dem lesenden Gegenüber etwas zu, und sei es, einen verzwickten ästhetischen Raum zu durchqueren. Extrem kunstvoll und jeweils als berauschendes Lektüreangebot haben dies Christian Kracht mit seinem Roman „Air“ (Kiepenheuer & Witsch) und Wolf Haas mit „Wackelkontakt“ (Hanser) bewiesen. Wie weit das Schreiben ins Eigene reichen kann, wie es Familienkonstellationen und die eigene Biografie erleuchten kann, das macht in diesem Jahr das Gastland Norwegen vor: Das autofiktionale Erzählen war in Leipzig dort mit so großen Namen wie Karl Ove Knausgaard, Thomas Espedal und vor allem Vigdis Hjorth vertreten. Eine Literatur, die mit Schmerz umgeht, aber auch mit Überwindung - und dass die deutsche Gegenwartsliteratur da in nichts nachsteht, das beweist etwa die siebzigjährige Helene Bracht mit ihrem späten Debüt „Das Lieben danach“ (Hanser). Fulminant ein Tabu brechend und dabei einzigartig souverän erzählt dieser Text vom Missbrauch – und seinen Grenzen. Dmitrij Kapitelman ist dafür bekannt, dass er zum einen tief taucht in seinen Romanen, aber das mit ungemeinem Wortwitz: In „Russische Spezialitäten“ (Hanser Berlin) nimmt er mit in das ‚Magasin‘, einen Leipziger Laden, den es tatsächlich gab, der seinen Eltern gehört hat – und in dem sich die osteuropäische Diaspora getroffen hat, um bei Kwas und Pelmeni an die Heimat zu denken, bis Russland die Ukraine überfallen hat. Hier versteht der Sohn seine Russland-gläubige Mutter nicht mehr, wohingegen es in Kristine Bilkaus Roman „Halbinsel“ (Luchterhand) die Tochter ist, die ein befremdliches Verhalten an den Tag legt. Der Modus des die Eltern verlassenden Kindes wird hier umgekehrt, die Tochter kriecht zurück unter die Fittiche der Mutter, die sich allerdings sacht überfordert zeigt, weil sie sich selbst längst abgenabelt hat. Für ihre literarische Umkreisung der Frage nach dem richtigen Leben auch in Zeiten der Krise wurde Kristine Bilkau mit Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik ausgezeichnet. Ein Mutter-Tochter-Verhältnis, das belastet ist durch Kriegsschuld, spielt in Christine Koschmieders fein geschneidertem Roman „Frühjahrskollektion“ (Kanon Verlag) eine wichtige Rolle, der die klare Botschaft trägt, dass Mode immer auch politisch ist. Ein schließlich sehr besonderes Buch mag den Reigen der exemplarisch zusammengetragenen Frühlingsliteratur beschließen: Aria Aber mit „Good Girl“ (Claassen Verlag). Die Autorin mit afghanischem Hintergrund ist in Deutschland aufgewachsen, lebt schon seit einigen Jahren in den USA und ist dort ein Star der Lyrikszene. Ihr Romandebüt hat sie selbst aus dem Englischen übersetzt, und es führt ins Techno-Berlin der 2010er Jahre. Hier wird die Geschichte der jungen Nila erzählt, die durch Clubs, Drogenexzesse, Liebesabenteuer und Alltagsrassismus rauscht. Die Geschichtsschreibung einer Stadt, kurz vor heute.

Hein, Kracht, Haas © Kiepenheuer & Witsch, © Kiepenheuer & Witsch, © Hanser

Fast 300.000 Menschen waren vom 27. bis 30. März auf der Leipziger Buchmesse zu Gast. Mehr als je, und als ich Verleger*innen nach ihrem Eindruck fragte, war die Rede von „Leipzig is back!“ genau wie von „Book is back!“. Ich denke, der Ansturm auf die Messe und das Medium Buch entsteht aus dem dringenden Bedürfnis, in Zeiten von Krisen und Kriegen nach Orientierung, guten Gedanken und Austausch zu suchen. Die Buchmesse verbindet beides, die Auseinandersetzung mit und die Flucht vor der Welt. Und vor allem bietet sie einen der wenigen Räume der Gemeinschaft in unserer gespaltenen gesellschaftlichen Realität. Die Literatur, dieses schöne langsame Medium, Literatur, die gegenwartsempfindlich, nicht gegenwartsaufgeregt ist, kann uns Wege zeigen, uns aus Gewöhnungen zu befreien und uns an der Hand von Geschichten die Geschichte wiederzuholen.

Bracht, Kapitelman, Bilkau © Hanser, © Hanser Berlin, © Luchterhand

Koschmieder, Aber © Kanon © Claassen

Dr. Katrin Schumacher ist Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Redakteurin beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Sie war die Juryvorsitzende des Preises der Leipziger Buchmesse 2025.


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