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Das ozeanische Gefühl

Fast drei Viertel der Oberfläche des „blauen Planeten" sind von Wasser bedeckt. Diese fest eingeschliffene Wendung scheint kaum noch verwunderlich, auch wenn gerade die Rede vom blauen Planeten jüngeren Datums ist: Zuerst sprach Juri Gagarin, dann die amerikanischen Astronauten vom leuchtenden Blau, in dem der Erdball erstrahlt, wenn man ihn als Ganzes betrachtet. Es ist das Wasser, das die Erde vom All aus definiert – und das am Anfang jeder Lebenskette steht, von den Protozoen bis zu den Säugetieren.

Dass das Leben aus dem Meer kommt, haben allerdings nicht nur Biologie und Evolutionstheorie mit Erfolg behauptet. Die Philosophie war schon viel früher da – mit den griechischen Naturphilosophen, die wie Thales von Milet oder Heraklit nur stoffliche Prinzipien kannten. „Thales hatte zwei Großtaten zugleich vollbracht: Er führte als Erster alles auf ein einziges Prinzip zurück und er sah es im Wasser", erklärt Gunter Scholtz in seiner „Philosophie des Meeres". Von den Vorsokratikern führt er über Humboldt, Hegel und Herders Meer als „Vorratshaus des Lebendigen" bis zu den meergeprägten Modernen wie Jaspers und Camus. Und plädiert für eine sehr gegenwärtige Umweltethik, die aus der uralten philosophischen Begeisterung fürs ozeanische Gewimmel schöpft.

Eine „Kreuzfahrt im Meer der Philosophie" möchte Scholtz, der als Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum lehrte, unternehmen und damit „keine neue Spezialphilosophie" begründen, sondern die Frage „nach dem Verhältnis des philosophischen Denkens zum Meer" erörtern. Was ausnehmend gut gelingt, denn Scholtz gerät nie ins fachspezifische Fahrwasser: Vielmehr erklärt er in auch für Nichtphilosophen verständlicher Weise, warum der Mensch als eingefleischter Landbewohner immer wieder gerade durch das Meer – als das ihm Fremde – bestimmt wurde. In sieben Kapiteln verschafft diese Gedankenreise dabei auch einen Überblick über die wichtigsten Epochen und Gebiete der Philosophie, wobei der Blick auf das Meer gleichzeitig auch den Meer-Betrachter in den Fokus rücken lässt.

Alles beginnt bei den griechischen Naturphilosophen: Neben Thales und Anaximander erläutert Scholtz auch das „Alles fließt" Heraklits, dem Philosophen „des permanenten Wandlungsprozesses, der stetigen Veränderung". Sowohl Nietzsche als auch Hegel waren stark von Heraklit und dessen Philosophie des Wandels beeinflusst (jedes Kapitel stellt Verbindungen und Traditionslinien quer durch die Epochen her, „kreuzt" also tatsächlich auf immer nachvollziehbare Weise im Meer der Denksysteme). Nach den Vorsokratikern kommt die „Philosophie des Meeres" auch auf die andere, ebenso traditionsreiche und um vieles dunklere Seite des Meeres und des Wassers zu sprechen: Es ist Platon, der Denker des Lichts, der das Meer als Ort der getrübten Erkenntnis, der niedrigen sinnlichen Welt darstellt. Platons Unterwelt, so Scholtz, sei „vor allem nass": eine Denkweise, die das fest verankerte Bild vom Meer als Ort des Schreckens aufgreift.

In der Neuzeit – Scholtz beschreibt die neuen Wissenschafts- und Erkenntnismodelle am Beispiel Francis Bacons – erweist sich das Meer als offener Horizont, den es zu erforschen und zu erobern gilt; fortgesetzt von der Frage, ob und wie die Ozeane selbst in Besitz genommen werden können. Handels- und seerechtliche Fragen werden im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts virulent – und finden Widerhall bei Kant, Herder und Hegel, die in unterschiedlicher Weise „für die Freiheit des Meeres plädierten".

Neben den rechts- und moralphilosophischen Fragen zeigt Scholtz aber auch, wie sich am Verhältnis zum Meer die Anfänge einer modernen Philosophie des Lebens ablesen lassen. Die romantischen Naturphilosophen interpretierten das Meer als Quelle des Lebens, Forscher wie Lorenz Oken sahen im ozeanischen Urschleim den Ursprung alles Organischen. Auch für Hegel ist das Meer „ein riesiger Zeugungs- und Geburtsraum", so Scholtz, ein wimmelnder Lebensspeicher also – eine Auffassung, die sich in Humboldts „Kosmos" ebenso wiederfindet wie in Jules Michelets „Das Meer". Der Historiker verehrt es nicht nur als „Amme der Lebewesen", sondern formuliert auch seine Empörung angesichts menschlicher Grausamkeiten gegenüber den (See)tieren – und fordert Regeln im Umgang mit fühlenden Lebewesen.

Von den veränderten Naturbegriffen des 19. Jahrhunderts aus verfolgt Scholtz das Entstehen moderner ethischer Verhaltensmaßstäbe, die in eine neue Bioethik – und ein neues Verständnis der Ozeane – münden. Die „Philosophie des Meeres" geht dabei auch auf die Ästhetik (das Meer als Symbol des Erhabenen) und auf die moderne Selbsterkundung (das Meer als Spiegel der Seele) ein: von den Existenzphilosophen Jaspers und Camus bis zu Dichtern wie Baudelaire und zurück zu Seneca und zur Stoa. Auf 280 sehr gut lesbaren Seiten gelingt dem Band eine so unterhaltsame wie erhellende Vernetzung von Antike und Moderne, Moralphilosophie, moderner Seelenerforschung und zeitgenössischem Umweltbewusstsein. Man möchte sofort in den Klassikern weiterlesen – und das Meer sehen.
Buchcover Philosophie des Meeres

Von Jutta Person

Jutta Person, geboren 1971 in Südbaden, studierte Germanistik, Italienistik und Philosophie in Köln und Italien und promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Physiognomik im 19. Jahrhundert. Die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin lebt in Berlin und schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Philosophie Magazin. Von 2004 bis 2007 war sie Redakteurin bei Literaturen, seit 2011 betreut sie das Ressort Bücher beim Philosophie Magazin.

(Stand: 2020)