Katerina Poladjan Zukunftsmusik
- S. Fischer Verlag
- Frankfurt am Main 2022
- ISBN 978-3-10-397102-6
- 192 Seiten
- Verlagskontakt
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen
Schwereloses Impromptu. Katerina Poladjan erzählt von der späten Sowjetunion
Immer wieder gelingen Poladjan eindrückliche Szenen, die emblematisch werden: Wie der Ingenieursassistent Matwej Alexandrowitsch zu Hause in der Kommunalka den Küchentisch von Janka, ihrer Mutter Maria Nikolajewna und der Großmutter Warwara Michailowna beanstandet, weil er drei Zentimeter zu lang sei und damit gegen die Vorschriften verstoße. Oder wie Maria kurze Zeit später in ihrem verwaisten Natur- und Völkerkunde-Museum, wo sie angestellt ist, vom Parterre mit dem ausgestopften Mammut in den Saal mit den Lemmingen wechselt, die um einen Elch herumwimmeln. Oder wie die Leute in einer langen Schlange an einem Geschäft anstehen, ohne zu wissen, was es dort zu kaufen gibt.
Hochmusikalisch und virtuos ist nicht nur die perspektivische Gestaltung mit Tempowechseln, inneren Monologen und bildhaften Vergleichen – die Luft ist „dünn, ein Faden, eine spitze, garstige Scherbe“-, sondern auch die Dialogführung. Nicht nur Ippolit und Warwara, sondern auch alle anderen Figuren, Janka ausgenommen, sprechen so wohlerzogen und geschliffen miteinander wie bei Tschechow. Da ist allenthalben von dem „Verehrtesten“ und „meiner Lieben“ die Rede, Siezen gehört dazu, jemand soll „eintreten“, obwohl es sich um eine Sechs-Quadratmeter-Klause handelt. Das Gefälle zwischen der gewählten Ausdrucksweise und der heruntergekommenen Wohnung hat einen komischen Effekt. Für die Protagonisten bekommt die Sprache zugleich eine Schutzfunktion: Wer so elegant zu formulieren weiß, verteidigt seine Autonomie, verweigert sich den politischen Floskeln und bezieht sich stattdessen auf den Hallraum der literarischen Tradition. Mit ihren Anklängen an die russischen Klassiker erinnert Poladjan an Giulia Corsalinis erfolgreichen Roman „Die Tschechowleserin“, im italienischen Original 2018 erschienen. Corsalini ließ ihre ukrainische Heldin, die als Altenpflegerin nach Italien gekommen war, ihre Geschicke im Stil Tschechows erzählen und gab ihr so ein ganz anderes Gepräge. Bei Poladjan schwingen außerdem Anspielungen auf Turgenjew, Gogol und Bulgakow mit, zu dessen Ehren die Autorin eine surreale Vignette erfindet: Ein Kommunalka-Genosse, ein Professor, katapultiert sich mit einem wippenden Stuhl an elastischen Bändern und Spiralen durch das Dach direkt in den Himmel.
Wie beiläufig hingetupft wirken die Geschehnisse, die für jede der Figuren auf einen Höhepunkt zulaufen. Und die Schlusswendung von „Zukunftsmusik“ ist tatsächlich zukunftstrunken: Wieder schwappt etwas Phantastisches in den Roman. Janka stößt in der Kommunalka auf eine unbeachtete Tür, hinter der sich eine weite Landschaft auftut. Die junge Frau gerät in einen ungewohnten seelischen Zustand. Katerina Poladjan beweist, wie glänzend sie sich auf die Innenschau ihrer Figuren und deren emotionale Bindungen versteht. Ihr gelingt ein kleines, schimmerndes Alphabet der Gefühle in der späten Sowjetunion. „Zukunftsmusik“ ähnelt einem schwerelosen Impromptu, das lange nachklingt.

Von Maike Albath
Maike Albath ist Literaturkritikerin und Journalistin beim Deutschlandfunk und Deutschlandfunkkultur. Sie schreibt außerdem für die Süddeutsche Zeitung. Im Berenberg Verlag liegen ihre Bücher Der Geist von Turin (2010), Rom, Träume (2013) und Trauer und Licht (2019) vor.
Inhaltsangabe des Verlags
Die Geschichte eines Aufbruchs: In der sibirischen Weite, tausende Werst östlich von Moskau, leben in einer Kommunalka auf engstem Raum Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin unter dem bröckelnden Putz einer vergangenen Zeit. Es ist der 11. März 1985, Beginn einer Zeitenwende, von der noch niemand etwas ahnt. Alle gehen ihrem Alltag nach. Der Ingenieur von nebenan versucht, sein Leben in Kästchen zu sortieren, Warwara hilft einem Kind auf die Welt, Maria träumt von der Liebe, Janka will am Abend in der Küche singen.
»Zukunftsmusik« ist ein großer Roman über vier Leben am Wendepunkt, über eine untergegangene Welt, die bis heute nachwirkt, über die Absurdität des Daseins und die große Frage des Hier und Jetzt: Was tun?
(Text: S. Fischer Verlag)