Christine Wunnicke Wachs
- Berenberg Verlag
- Berlin 2025
- ISBN 978-3-911-32703-9
- 192 Seiten
- Verlagskontakt
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Polnische (2025 - 2027) an.
Menschen mit besonderen Neigungen – Christine Wunnicke führt zu den Pionieren der Anatomie ins Paris des 18. Jahrhunderts
So ist auch ihr neuer Roman ein Buch, das schier Unglaubliches zutage fördert. Es handelt von der berühmten, aber heute nur noch Kennern geläufigen Pariserin Marie Bihéron, die im Paris des achtzehnten Jahrhunderts lebte und deren Lebensziel es gewesen war, „der beste Anatom von Paris“ zu werden. Die kleine Person, die uns auf der ersten Seite von „Wachs“ begegnet, wird vor den Toren der Stadt Paris bei den Musketieren vorstellig, um dort eine Leiche zu kaufen: „Das Geld trage ich bei mir, ich kann gleich bezahlen, so es denn nicht allzu teuer ist, und meine Mutter heißt es gut.“
Wer das mal glauben mag! Aber da redet die kleine Person gleich weiter. „Ich würde auch gerne, falls das möglich und erschwinglich ist, eine Subskription anmelden, für den ganzen Herbst und Winter und die ganze Zeit, bis es wieder warm wird. Ich würde die erste morgen abholen lassen. Falls Sie mehrere lagern, hätte ich lieber die einer Frau oder eines Kindes, weil ich ein Mädchen bin, wie Sie sehen, aber ich darf nicht wählerisch sein. Sie müssten mir alle Formalien erklären, die Bestattung besonders, und wer wofür aufkommt und welcherart ich sie zurückgeben soll, wenn ich fertig bin, denn ich weiß das leider nicht.“
Ein Mädchen will also im Jahr 1733 eine Leiche kaufen. Man hat ihr gesagt, beim Militär, da gibt es welche. Mit einer Leiche vom Militär also steigt Wunnicke ein. Und bald schickt sie uns mit ihrer erst kleinen, bald erwachsenen und später greisen Protagonistin durch ein wildwüchsiges Paris der Aufklärung und der Revolutionswirren.
Marie wird sich durchbeißen und zu einer Berühmtheit ihres Faches werden. Mit einer speziellen Technik wird sie Wachsmodelle erstellen, die in Europa ihresgleichen suchen. Marie ist besessen von dem Gedanken, Ordnung in den menschlichen Körper zu bringen, der damals noch unordentlich und unzugänglich war, indem sie ihn erst sezierte, dann zerlegte und alsdann Abdrücke von seinen Einzelteilen anfertigte. Sie schuf auf diese Weise das erste naturgetreue Modell einer Schwangeren. Mit ihren Wachsmoulagen bereiste sie halb Europa, korrespondierte mit Königsfamilien und führenden Wissenschaftlern, die ihre so unappetitliche wie faszinierende Kunst förderten.
Doch bevor es soweit kommt, versucht Maries Mutter – in Wunnickes Version zumindest – das Kind wieder auf den rechten Weg zu bringen. In einer Kunstschule im Pariser Marais soll es Zeichenunterricht erhalten. „‚Es gibt Berufe‘, sagte Madame Bihéron nach einer Weile, die ein Mädchen erlernen kann. Gott gab dir Talent zum Zeichnen. Du könntest nach der Natur zeichnen lernen. Das wirft einiges ab.‘“
Was uns zur zweiten Personalie des Romans bringt. Zur weltberühmten Pflanzenmalerin Madeleine Basseporte, die im Jardin Royal ihr Atelier betrieb und dort auch lebte – zusammen mit Marie Bihéron: „Madeleine Basseporte war eine hochgewachsene Schönheit, von einer solchen Gattung und Art, dass sie Gegaffe, Gerede, Geseufze auf sich zog und im schlimmsten Fall auch Gedichte.“ Mit so etwas will sich Madeleine nicht aufhalten. Und auch Marie hat keine Zeit für pubertäre Schwärmerei. Die beiden haben Wichtigeres zu tun.
Da sie von sämtlichen Promis des Aufklärungszeitalters in einem Atemzug genannt werden, dichtet Christine Wunnicke ihnen eine Liebesbeziehung auf Augenhöhe an. Und Marie gleich noch ein paar herrliche Dialoge mit ihrem prominenten Nachbarn, der auch in echt ihr Nachbar gewesen war: „Es waren die besten Nachbarn nicht. Madame Diderot, wenn sie nicht gerade ihren Mann anschrie, schmiss mit solcher Gewalt die Klöppel auf dem Kissen umher, dass man es durch die Decke hörte. Sie hatte letzthin wieder zu klöppeln begonnen, weil der Familie das Geld ausging. Zuweilen schrie sie und klöppelte dabei weiter. Ihr Mann interessierte sich sogar für das Klöppeln.“
So ist auch dieser neue Roman von Christine Wunnicke eine Zeit- und Ideenreise in ferne Gebiete. Das meiste daran stimmt, das Wichtigste: nämlich der Ideenkosmos und das seelische Drama, das ihm zugeordnet werden muss. Der Rest ist kongenial erfunden. So weiß man nichts über Marie Bihérons Leben zur Zeit der Revolution. Bei Wunnicke stolpert eine verwachsene Alte über die Trümmer ihrer Zeit.
Man lernt ungeheuer viel in diesem kleinen Roman, man lacht aber auch viel über die Skurrilitäten der beiden Romanheldinnen. Ihr Denken und Handeln erscheint uns aus heutiger Perspektive zugleich im Stoff historisch und in seiner Radikalität zeitlos. Aus dieser Aktualität des zu allen Zeiten konstanten menschlichen Erkenntnisdrangs blühen alle Romane von Christine Wunnicke. So hat auch „Wachs“ einen Sog, dem man sich gerne aussetzt. In einer einzigartigen Mischung aus Slapstick, Ideenarchäologie und Seelendrama bringt „Wachs“ uns den Menschen des Aufklärungszeitalters nahe.

Von Katharina Teutsch
Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.
Inhaltsangabe des Verlags
Eine Liebesgeschichte, so schön, so verwegen, wie nur Christine Wunnicke sie schreibt. Schauplatz ist Frankreich im 18. Jahrhundert, das vorrevolutionäre und das überaus revolutionäre. Und es lieben sich zwei Frauen, die verschiedener nicht sein könnten: Marie Biheron, die schon im zarten Alter Leichen seziert, um deren Innenleben aus Wachs zu modellieren; und Madeleine Basseporte, die zeichnend die Anatomie von Blumen aufs Papier zaubert, weil Menschen eher stören und meist keine Ahnung haben. Männer kommen auch vor, in schönen Nebenrollen – ein nervöser Bestseller-Autor, ein junger Nichtsnutz und Diderot, der Kaffee trinkt und viel redet. Ein hinreißender Liebesroman, der hin und her schwingt zwischen der Zeit, als Küchenschellen friedlich am Wegesrand wuchsen, und jenen Schreckenstagen, als nicht allein der Königin wie einer schönen Blume der Kopf abgeschlagen wurde.
(Text: Berenberg Verlag)