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Erforschung der Randgebiete - Nils Mohls Roman „Henny & Ponger“

Wundersame Irritationen erwarten Leser und Leserinnen in Nils Mohls neuem Roman „Henny & Ponger“. Mohl ist ein Poet, ein Sprachspieler unter den deutschen Jugendbuchautoren, ein pointierter Beschreiber des Kampfes junger Menschen um Orientierung im Tohuwabohu des Erwachsenwerdens – wie etwa sein 2011 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichneter Roman „Es war einmal Indianerland“ belegt. Der 51-jährige Autor jongliert in seinen Geschichten mit vielerlei Assoziationen und überrascht mit unerwarteten Wendungen.

Aber so überraschend jonglierend wie in „Henny & Ponger“ kennt ihn der Rezensent nicht. Also vertraut er auf den ersten Seiten des Romans seiner Leseerfahrung: „Aha, eine zarte, spannende Liebesgeschichte im Coming-of-Age-Universum, die so oder ähnlich jedem/jeder jungen Liebenden passieren könnte.“ Ponger, vielleicht 18 Jahre alt, ein begnadeter Tüftler und Handwerker, sitzt auf dem Nachhauseweg in der S-Bahn, genauer gesagt: in der Linie S 31 Richtung Hamburg-Altona. (Alle Beschreibungen der Handlungsorte sind konkret. Das erdet die Geschichte. Fast fühlt man sich genötigt, neben dem Buch die Landkarte aufzuschlagen oder Google Maps bereitzuhalten.) Ponger also sitzt im Werkstatt-Overall in der S-Bahn. Auf seinem Schoß liegt ein aufgeklapptes Buch. Schräg gegenüber fällt ihm eine junge Frau auf, die ebenfalls ein Buch liest. Wie sich bald herausstellt, liest sie ebenso wie er John Greens Roman „Margos Spuren“. Womöglich eine Seelenverwandtschaft? Und dann sieht sein Gegenüber auch noch verdammt hübsch aus! Ponger ist hin und weg. Versucht, einen Blick von ihr zu erhaschen. Vergeblich. Hätte längst aussteigen müssen. Fährt aber einfach weiter. Wenn das nicht der Beginn einer tragikomischen Liebesgeschichte ist, samt Berg- und Talfahrt der Gefühle! Sie müsste ja nicht mit einem schmalzigen Happy End ausklingen, sondern könnte so offen enden wie die Liaison zwischen Margo und Quentin in John Greens Roman.

Man liest sich fest und kommt dabei langsam ins Grübeln. Das ist doch keine reine Liebesgeschichte?! Je näher man den beiden Hauptpersonen kommt – Ponger nennt die junge Frau, die sich ihm auf unerwartete Weise nähert, Henny –, je näher man den beiden also kommt, desto verrätselter werden die Figuren. Ponger leidet anscheinend unter Gedächtnisverlust. Er weiß nichts über seine Herkunft. Weiß nur, dass ihn eine schräge alte Dame, Pörl, mit einem noch schrägeren amerikanischen Oldtimer bei sich aufgenommen hat und ihn liebevoll umsorgt. Außer Pörl vertraut er nur seiner Chefin, die in einem tristen Gewerbegebiet („Ponger mag diese Randgebiete der Zivilisation“) eine Werkstatt für alte Flipperautomaten jeder Art betreibt. Und Ponger, der geniale Reparateur, löst selbst die kompliziertesten Aufgaben wie im Traum.

Nun beginnt ein Roadmovie zwischen Hamburg und der nordfriesischen Insel Amrum, zwischen ödem Großstadtpflaster und traumhaft breiten Sandstränden, mit Wendungen, die man selbst als genregeprüfter Rezensent nicht erwartet hätte. Kaum hat man sich in den Rhythmus des Roadmovies eingetaktet, erscheinen erzählerische Elemente, die die Geschichte in Richtung Mystery und Science Fiction treiben. Henny braucht Pongers Hilfe bei der Reparatur eines eigenartigen Gegenstandes und glaubt sich von fremden Männern verfolgt.

Hier muss der Ehrenkodex des Rezensenten in Kraft treten, der besagt, den Fortgang der Geschichte nicht zu erzählen, geschweige denn das Ende zu verraten. Nur so viel: Je rätselhafter die Hauptfiguren werden, desto komplexer wird die innere Welt, in der sie sich bewegen. Gleichzeitig jedoch spürt man als aufmerksamer Begleiter, der den Jugendlichen selbst auf dem holprigen Bohlensteg im nächtlichen Inselwald auf den Fersen ist, wie der Erzähler peu à peu den Kern der Geschichte freilegt: die unendliche Sehnsucht junger Menschen nach Anerkennung ihrer individuellen Einzigartigkeit, ihrer Fähigkeiten und Ängste, ihrer Lebenslust und ihrer Träume – inmitten des mächtigen Stroms aus Konformitätsdruck, Gleichförmigkeit und Gleichgültigkeit.

Nils Mohl jongliert mit unterschiedlichen Genres, mit filmischen, literarischen und musikalischen Anspielungen, so dass die Erzählung in dramaturgisch geschickten 202 Kurzkapiteln nahezu atemlos einem Ende zustrebt, das man so nicht erwartet. John Green hätte seine Freude daran, und Margo und Quentin würden Henny und Ponger anerkennend auf die Schulter klopfen.         
Buchcover Henny & Ponger

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.