Sasha Marianna Salzmann Im Menschen muss alles herrlich sein
- Suhrkamp Verlag
- Berlin 2021
- ISBN 978-3-518-43010-1
- 384 Seiten
- Verlagskontakt
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen
Vom Ende der Herrlichkeit
Ihr neuer Roman Im Menschen muss alles herrlich sein erregte ebenfalls großes Aufsehen und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Hatte sie in Außer sich ihre eigene Biografie in die Odyssee eines inzestuös verbundenen Zwillingspaares verwandelt, die von Moskau über die westdeutsche Provinz und Berlin bis nach Istanbul führt und mit dem Rückblick auf eine jahrhundertelange russisch-jüdische Familienhistorie verknüpft wird, ist Sasha Marianna Salzmann diesmal recherchierend auch in fremde Lebensberichte und Zeitzeugnisse eingetaucht. Vier Frauen stehen im Zentrum der kunstvoll multiperspektivischen Erzählung, die den Untergang der Sowjetunion schildert, die Auswirkungen des Systemzerfalls auf individuelle Lebensläufe und die schwierige Identitätssuche von Ausgewanderten in einem Land, das nicht zur Heimat werden kann.
Die Ärztin Lena und die Friseurin Tatjana sind um die Mitte der Neunzigerjahre aus der Ukraine nach Jena gekommen und haben sich angefreundet. Jede der beiden hat eine mittlerweile erwachsene Tochter, und diese psychologisch ergiebige Konstellation ist das zweite große Thema des Romans. Die Mütter versuchen ihre Verluste zu verarbeiten, die Töchter müssen die Entwurzelung der Elterngeneration verkraften. Edi, die Züge der Autorin trägt, schlägt sich als Journalistin durch, während Nina, schon in Deutschland geboren, sich mit Symptomen des Asperger-Syndroms in ihre Innenwelt zurückzieht. Jenseits des geografischen und zeithistorischen Horizonts geht es hier um den unterschiedlichen Blick zweier Generationen auf Vergangenheit und Gegenwart, um die Unvereinbarkeit von Erfahrungen und Wahrnehmungen, um Sprachlosigkeit und das Ringen um wechselseitige Empathie.
Der Romantitel, ein Zitat aus Anton Tschechows Onkel Wanja, findet in der Handlung einen ambivalenten Widerhall: Wird es von den Systemtreuen der späten Sowjetunion noch als moralisierende Phrase verwendet, hat es in der Zeit der Perestroika, als Erstarrung in existenzielle Unsicherheit umschlägt und der letzte Rest der Gesellschaftsutopie verdampft, einen sarkastischen Beiklang bekommen. Sasha Maria Salzmanns bildkräftige und doch leichtgängige Erzählprosa, arrangiert mit dem Geschick der Theaterautorin für Figurenzeichnung und Dramaturgie, lässt jenen Umbruch und seine Folgen auf intensive Art anschaulich, ja fühlbar werden.

Von Kristina Maidt-Zinke
Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.
Inhaltsangabe des Verlags
Wie soll man »herrlich« sein in einem Land, in dem Korruption und Unterdrückung herrschen, in dem nur überlebt, wer sich einem restriktiven Regime unterwirft? Wie soll man diese Erfahrung überwinden, wenn darüber nicht gesprochen wird, auch nicht nach der Emigration und nicht einmal mit der eigenen Tochter? »Was sehen sie, wenn sie mit ihren Sowjetaugen durch die Gardinen in den Hof einer ostdeutschen Stadt schauen?«, fragt sich Nina, wenn sie an ihre Mutter Tatjana und deren Freundin Lena denkt, die Mitte der neunziger Jahre die Ukraine verließen, in Jena strandeten und dort noch einmal von vorne begannen. Lenas Tochter Edi hat längst aufgehört zu fragen, sie will mit ihrer Herkunft nichts zu tun haben. Bis Lenas fünfzigster Geburtstag die vier Frauen wieder zusammenbringt und sie erkennen müssen, dass sie alle eine Geschichte teilen.
In ihrem neuen Roman erzählt Sasha Marianna Salzmann von Umbruchzeiten, von der »Fleischwolf-Zeit« der Perestroika bis ins Deutschland der Gegenwart. Sie erzählt, wie Systeme zerfallen und Menschen vom Sog der Ereignisse mitgerissen werden. Dabei folgt sie vier Lebenswegen und spürt der unauflöslichen Verstrickung der Generationen nach, über Zeiten und Räume hinweg. Bildstark, voller Empathie und mit großer Intensität.
(Text: Suhrkamp Verlag)