Schnelleinstieg: Zum Inhalt springenZur Hauptnavigation springenZur Sprachnavigation springen

Buchcover Im Menschen muss alles herrlich sein

Sasha Marianna Salzmann Im Menschen muss alles herrlich sein

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen

Vom Ende der Herrlichkeit

Unter den jüngeren russisch-deutschen Autorinnen und Autoren, deren Migrations- und Integrationserfahrungen seit Jahren das Farbenspektrum der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bereichern, ist Sasha Marianna Salzmann eine der spannendsten Persönlichkeiten. 1985 in Wolgograd geboren, in Moskau aufgewachsen und als Zehnjährige mit ihrer jüdischen Familie nach Deutschland emigriert, steuerte sie zunächst eine Boxkarriere an, studierte dann Literatur- und Theaterwissenschaften und konnte schon bald Erfolge als Bühnenautorin und Dramaturgin feiern. 2013 wurde sie Hausautorin, für zwei Jahre auch Leiterin der Studiobühne des Berliner Maxim Gorki Theaters, das sich gerade mit politisch-experimentellen Inszenierungen zu einem „postmigrantischen“ Kulturforum entwickelte. So war Salzmann, die sich selbst als non-binär definiert, schon prominent, als sie 2017 ihr Romandebüt Außer sich vorlegte: Es wurde gerühmt als „gewagte wie gelungene Gratwanderung zwischen kulturellen und geschlechtlichen Identitäten“, mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet und in 16 Sprachen übersetzt.

Ihr neuer Roman Im Menschen muss alles herrlich sein erregte ebenfalls großes Aufsehen und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Hatte sie in Außer sich ihre eigene Biografie in die  Odyssee eines inzestuös verbundenen Zwillingspaares verwandelt, die von Moskau über die westdeutsche Provinz und Berlin bis nach Istanbul führt und mit dem Rückblick auf eine jahrhundertelange russisch-jüdische Familienhistorie verknüpft wird, ist Sasha Marianna Salzmann diesmal recherchierend auch in fremde Lebensberichte und Zeitzeugnisse eingetaucht. Vier Frauen stehen im Zentrum der kunstvoll multiperspektivischen Erzählung, die den Untergang der Sowjetunion schildert, die Auswirkungen des Systemzerfalls auf individuelle Lebensläufe und die schwierige Identitätssuche von Ausgewanderten in einem Land, das nicht zur Heimat werden kann.
Die Ärztin Lena und die Friseurin Tatjana sind um die Mitte der Neunzigerjahre aus der Ukraine nach Jena gekommen und haben sich angefreundet. Jede der beiden hat eine mittlerweile erwachsene Tochter, und diese psychologisch ergiebige Konstellation ist das zweite große Thema des Romans. Die Mütter versuchen ihre Verluste zu verarbeiten, die Töchter müssen die Entwurzelung der Elterngeneration verkraften. Edi, die Züge der Autorin trägt, schlägt sich als Journalistin durch, während Nina, schon in Deutschland geboren, sich mit Symptomen des Asperger-Syndroms in ihre Innenwelt zurückzieht. Jenseits des geografischen und zeithistorischen Horizonts geht es hier um den unterschiedlichen Blick zweier Generationen auf Vergangenheit und Gegenwart, um die Unvereinbarkeit von Erfahrungen und Wahrnehmungen, um Sprachlosigkeit und das Ringen um  wechselseitige Empathie.

Der Romantitel, ein Zitat aus Anton Tschechows Onkel Wanja, findet in der Handlung einen ambivalenten Widerhall: Wird es von den Systemtreuen der späten Sowjetunion  noch als moralisierende Phrase verwendet, hat es in der Zeit der Perestroika, als Erstarrung in existenzielle Unsicherheit umschlägt und der letzte Rest der Gesellschaftsutopie verdampft, einen sarkastischen Beiklang bekommen. Sasha Maria Salzmanns bildkräftige und doch leichtgängige Erzählprosa, arrangiert mit dem Geschick der Theaterautorin für Figurenzeichnung und Dramaturgie, lässt jenen Umbruch und seine Folgen auf intensive Art anschaulich, ja fühlbar werden.
 
Buchcover Im Menschen muss alles herrlich sein

Von Kristina Maidt-Zinke

​Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.