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Buchcover Zukunftsmusik

Katerina Poladjan Zukunftsmusik

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen

Schwereloses Impromptu. Katerina Poladjan erzählt von der späten Sowjetunion

Sind wir auf einer Bühne gelandet? In einem Theater, wo gerade ein Stück von Anton Tschechow aufgeführt wird? Mit formvollendeter Galanterie nimmt der Schlafwagenschaffner Ippolit Iwanowitsch seine Nachbarin, die Krankenschwester Warwara in Empfang, und sie lässt sich von ihm hofieren, als sei sie eine Gräfin. Das Paar zelebriert ein heimliches Techtelmechtel, das sich aber nicht auf einem russischen Landsitz, sondern in einer sowjetischen Kommunalka mitten in einer Metropole zuträgt. Katerina Poladjan, 1971 in Moskau geboren und seit den späten siebziger Jahren in Deutschland zu Hause, lässt ihren perfekt komponierten Roman „Zukunftsmusik“ an einem einzigen Tag spielen, dem 11. März 1985. Dadurch erzeugt sie eine besondere Durchdringung von Zeit und Raum. Hauptschauplatz ist die überfüllte Kommunalka. Die Ära Gorbatschow beginnt, wovon ihr mehrköpfiges Heldenensemble aber noch nichts ahnt. In der Luft liegt es dennoch. Ihre Figuren stecken in einer Zeitfalte: Eine Epoche geht zu Ende, während sich etwas Neues andeutet, ohne tatsächlich greifbar zu sein. Warwaras Enkelin, die 20jährige Janka, erfährt während ihrer Nachtschicht in einer Glühbirnenfabrik irgendwo weit östlich von Moskau, dass der Oberste Sowjet gestorben sei, denn der Vorarbeiter hält ein Radio in die Höhe, aus dem Chopins Trauermarsch tönt. Allein diese Geste bringt das Verhältnis zur Macht auf den Punkt: Der Name des Staatsratsvorsitzenden fällt nicht. Der Staat ist eine diffuse, unsichtbare Größe, die alles bestimmt, genauso unvermeidlich wie die Luft zum Atmen.

Immer wieder gelingen Poladjan eindrückliche Szenen, die emblematisch werden: Wie der Ingenieursassistent Matwej Alexandrowitsch zu Hause in der Kommunalka den Küchentisch von Janka, ihrer Mutter Maria Nikolajewna und der Großmutter Warwara Michailowna beanstandet, weil er drei Zentimeter zu lang sei und damit gegen die Vorschriften verstoße. Oder wie Maria kurze Zeit später in ihrem verwaisten Natur- und Völkerkunde-Museum, wo sie angestellt ist, vom Parterre mit dem ausgestopften Mammut in den Saal mit den Lemmingen wechselt, die um einen Elch herumwimmeln. Oder wie die Leute in einer langen Schlange an einem Geschäft anstehen, ohne zu wissen, was es dort zu kaufen gibt.

Hochmusikalisch und virtuos ist nicht nur die perspektivische Gestaltung mit Tempowechseln, inneren Monologen und bildhaften Vergleichen – die Luft ist „dünn, ein Faden, eine spitze, garstige Scherbe“-, sondern auch die Dialogführung. Nicht nur Ippolit und Warwara, sondern auch alle anderen Figuren, Janka ausgenommen, sprechen so wohlerzogen und geschliffen miteinander wie bei Tschechow. Da ist allenthalben von dem „Verehrtesten“ und „meiner Lieben“ die Rede, Siezen gehört dazu, jemand soll „eintreten“, obwohl es sich um eine Sechs-Quadratmeter-Klause handelt. Das Gefälle zwischen der gewählten Ausdrucksweise und der heruntergekommenen Wohnung hat einen komischen Effekt. Für die Protagonisten bekommt die Sprache zugleich eine Schutzfunktion: Wer so elegant zu formulieren weiß, verteidigt seine Autonomie, verweigert sich den politischen Floskeln und bezieht sich stattdessen auf den Hallraum der literarischen Tradition. Mit ihren Anklängen an die russischen Klassiker erinnert Poladjan an Giulia Corsalinis erfolgreichen Roman „Die Tschechowleserin“, im italienischen Original 2018 erschienen. Corsalini ließ ihre ukrainische Heldin, die als Altenpflegerin nach Italien gekommen war, ihre Geschicke im Stil Tschechows erzählen und gab ihr so ein ganz anderes Gepräge. Bei Poladjan schwingen außerdem Anspielungen auf Turgenjew, Gogol und Bulgakow mit, zu dessen Ehren die Autorin eine surreale Vignette erfindet: Ein Kommunalka-Genosse, ein Professor, katapultiert sich mit einem wippenden Stuhl an elastischen Bändern und Spiralen durch das Dach direkt in den Himmel.

Wie beiläufig hingetupft wirken die Geschehnisse, die für jede der Figuren auf einen Höhepunkt zulaufen. Und die Schlusswendung von „Zukunftsmusik“ ist tatsächlich zukunftstrunken: Wieder schwappt etwas Phantastisches in den Roman. Janka stößt in der Kommunalka auf eine unbeachtete Tür, hinter der sich eine weite Landschaft auftut. Die junge Frau gerät in einen ungewohnten seelischen Zustand. Katerina Poladjan beweist, wie glänzend sie sich auf die Innenschau ihrer Figuren und deren emotionale Bindungen versteht. Ihr gelingt ein kleines, schimmerndes Alphabet der Gefühle in der späten Sowjetunion. „Zukunftsmusik“ ähnelt einem schwerelosen Impromptu, das lange nachklingt.
Buchcover Zukunftsmusik

Von Maike Albath

Maike Albath ist Literaturkritikerin und Journalistin beim Deutschlandfunk und Deutschlandfunkkultur. Sie schreibt außerdem für die Süddeutsche Zeitung. Im Berenberg Verlag liegen ihre Bücher Der Geist von Turin (2010), Rom, Träume (2013) und Trauer und Licht (2019) vor.