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Buchcover Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie

Wolfgang Ullrich Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie

Übersetzungsförderung
Italienische Rechte bereits vergeben.

Adorno wohnt hier nicht mehr

Wolfgang Ullrich zeigt in einem aufschlussreichen Essay, wie Kunst, Warenwelt und politische Aktion fusionieren – und warum die Epoche des autonomen Künstlers zu Ende geht

Künstler entwerfen Sneakers, Aktivistinnen berufen sich auf Kunstfreiheit, Luxuslabels werben mit prestigeträchtigen Namen. Was gilt heute als Kunst, und warum schöpft eine wachsende Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern ihre Bedeutung aus der Fusion mit anderen Bereichen? Dass die Grenzen zwischen Kunst, Mode und politischer Aktion im 21. Jahrhundert nicht mehr klar gezogen werden können, ist nicht zu übersehen – und doch gab es, jenseits von Fachpublikationen und Feuilletonbeiträgen, bislang kaum Bücher, die solche Entwicklungen für ein größeres, kunstinteressiertes Publikum auf den Punkt gebracht hätten.

Zum Glück schließt Wolfgang Ullrichs Essay „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“ nicht nur diese Lücke. In sieben so les- wie streitbaren Kapiteln erläutert der Kunstwissenschaftler die Geschichte der autonomen Kunst, analysiert die zeitgenössischen Kunstdebatten und -märkte und fragt, wie eine künftige postautonome Kunst aussehen könnte. Ullrichs Publikationen – „Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst“ (2003), „Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?“ (2006) oder „Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust“ (2016), um nur einige zu nennen – stehen für eine Kunst- und Gesellschaftskritik, die aus vielen Phänomenen die Luft herauslassen will, von der kunstreligiösen Erlösungssehnsucht über das einsam schaffende Genie bis zum Feindbild ‚Konsum‘ in der Tradition der Kritischen Theorie.

In seinem neuen Essay hält Ullrich zunächst einmal fest, dass die Kunst der Gegenwart nicht nur Gemälde, Installationen oder Performances umfasse; auch Make-up, Protestkundgebungen oder Handtaschen könnten „Spielarten von Kunst sein.“ Anders als die alte, autonome Kunst, die intellektuell herausfordernd und nicht konsumierbar sein sollte (hierin waren sich selbst Antipoden wie Adorno und Heidegger einig), weist die postautonome Kunst geradezu gegenteilige Merkmale auf: Sie erzeuge ein Gefühl des Habenwollens oder Dabeiseinwollens und lasse, so Ullrich, „eine neue Dingkultur“ entstehen.

Bevor dieses neue Verhältnis zwischen Kunstobjekten und teilhabenden Subjekten im Detail analysiert wird, wendet sich Ullrich den alten Autonomie-Idealen und dem radikalen Wandel der letzten Jahrzehnte zu. Die Aufwertung der Kunst um 1800 bringt den Nimbus des Göttlichen und Unendlichen mit sich, doch dieser Kunstidealismus wird im späten 20. Jahrhundert obsolet: „Das Versprechen, dass die Kunst anders und mehr als anderes sei, wurde schal.“ Damit erodiert auch die Idee autonomer Kunst. Ullrich benennt zwei Faktoren, die dieser Schwächung Vorschub leisten: zum einen die „Globalisierung der Kunst-Institutionen“, die sich immer stärker an der Markt- und Markenlogik orientieren. Und zum anderen der „Sog der Sozialen Medien“: Künstlerische Arbeiten sollten „instagramable“ sein. Dazu kommt, dass die Netz-Community beteiligt sein will, was in der hochkulturellen Kunst nicht vorgesehen war. Postautonome Kunst dagegen beziehe Fans mit ein und orientiere sich an der Nachfrage.

Die folgenden Kapitel widmet Ullrich dieser neuen Kunstwelt: Die Eigenschaften postautonomer Kunst erklärt er am Beispiel eines Art Toys des Kunstlabels FriendsWithYou. Die als Little Cloud bekannte Wolke mit dem Babygesicht sei ein Markenprodukt, ein Sammlerobjekt, eine niedliche Projektionsfläche, die sich bei Bedarf auch politisieren lasse (etwa in Kombination mit einem LGTBQ-Regenbogen) und Trost spende. Wer so viel Banalität für unwürdig hält, muss sich von Ullrich fragen lassen, ob in der Wohlfühlatmosphäre, die mal Entlastung biete, mal Integration erleichtere, nicht doch auch eine besondere Qualität liege. Dem Museum als „Ort des Streits zwischen alten und neuen Idealen“ gilt eine weitere Überlegung: Am Beispiel des 2018 zeitweise abgehängten Gemäldes von John William Waterhouse in der Manchester Art Gallery verdeutlicht Ullrich, wie die Grabenkämpfe um Identitätspolitik, Wokeness und Freiheit der Kunst verlaufen. Der Frage ‚Wer bestimmt, was an der Wand hängt?‘ stehen Zensurvorwürfe gegenüber, die wiederum von Diskriminierungsvorwürfen gekontert werden.

Die vielleicht spannendsten und strittigsten Thesen finden sich am Ende des Bandes. Ullrich präsentiert dort „Formen des Misslingens“ und „Formen des Gelingens“ postautonomer Kunst. Auf der Seite des Misslingens werden Installationen und Objekte der Künstler Daniel Arsham, Ai Weiwei oder Anri Sala verbucht, auf der Seite des Gelingens das Handtaschen-Design von Virgil Abloh, die Gemälde von Kerry James Marshall oder das Video Apeshit von Beyoncé und Jay-Z. Um nur einen Einwand zu nennen: Ob die Konsumkultur, die bei Abloh, dem Empowerment-Video und letztlich auch bei Ullrich selbst durchaus positiv besetzt ist, wirklich die „Partizipation derer ermöglicht, die sonst ausgeschlossen blieben“, scheint fraglich (schon allein, weil wieder nur die Happy Few finanziell partizipieren).

Ullrichs Essay – das zeigt nicht zuletzt die lebhafte Zustimmung wie auch die Kritik, die im deutschsprachigen Feuilleton formuliert wurde – ist ein im besten Sinne diskussionswürdiges Buch: zugänglich, intellektuell anregend und thesenstark. Und weil auch die Gattung Essay einmal Teil der schönen Künste war, könnte man sagen: diese Analyse ist, mit ihrer Argumentationskultur und ihrem augenöffnenden Weltwissen, ein klassisch autonomes Kunstwerk.                                                  
Buchcover Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie

Von Jutta Person

Jutta Person, geboren 1971 in Südbaden, studierte Germanistik, Italienistik und Philosophie in Köln und Italien und promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Physiognomik im 19. Jahrhundert. Die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin lebt in Berlin und schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Philosophie Magazin. Von 2004 bis 2007 war sie Redakteurin bei Literaturen, seit 2011 betreut sie das Ressort Bücher beim Philosophie Magazin.

(Stand: 2020)