Schnelleinstieg: Zum Inhalt springenZur Hauptnavigation springenZur Sprachnavigation springen

Buchcover Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen

Harald Jähner Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen

Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungs­förderung ins Italienische (2022 - 2024) an.

Rausch und Absturz im Berlin der Zwischenkriegszeit

Man muss sich einer Epoche als Feinmechaniker mit zusätzlicher Chemiegrundausbildung nähern, wenn man ihren Mechanismus verstehen will. Wie in Chaplins „Moderne Zeiten“, ist das, was die Zwischenkriegsmoderne feiert und am Ende zerstört, ein gigantisches Räderwerk. Es bringt erstaunliche Dinge hervor, kann Menschen aber auch verschlingen oder giftigen Dämpfen aussetzen. Vom großen Zahnrad bis hin zur kleinsten Schraube will alles betrachtet sein, was „das kurze Leben zwischen den Kriegen“ ausmacht. Der technische Aufbruchsfuror, den wir heute mit der Digitalisierung wieder erleben, wie auch die Angst vor dem Werteverfall und der ungewissen Zukunft: All das war vor hundert Jahren auch schon im Schwange.

Harald Jähner, ehemaliger Kulturchef der Berliner Zeitung und preisgekrönter Autor erzählender Geschichtsbücher, hat sich in „Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen“ sämtlichen Phänomenen gewidmet, die das so berauschende wie beängstigende Gefühl von Epochenwende zwischen den beiden Weltkriegen in Deutschland ermöglichte. Herausgekommen ist eine virtuose Phänomenologie, thematisch gebündelt, anekdotisch, pointiert, nicht zuletzt spannend erzählt wie ein Gesellschaftsroman, bei dem sittliche, technische, politische, erotische Motive ineinander übergehen und ihrerseits zu neuen Phänomenen aufschießen.

An der neuen Zeit war alles, nun ja, neu. Und das Neue war meistens schnell – schneller zumindest als zuvor: der Verkehr, die Telekommunikation, die Presse, die Gesellschaftstänze, die mit dem neumodischen Shimmy auf einmal keine mehr waren, sondern Solotänze für lebenslustige Individualisten und vor allem Individualistinnen.

Alles an der neuen Zeit kam mit Rasanz. Das gilt auch für emanzipatorische Prozesse, die freilich vor allem ein Phänomen der Großstädte blieben. Nie war die soziale Mobilität in Deutschland größer als in den zwanziger Jahren in Berlin, wo auch für Fräuleins aus der Arbeiterklasse plötzlich neue Lebensperspektiven entstanden – und zwar im Telefonistinnen- und Sekretärinnengewerbe. Dort, so Jähner, kommen die Frauen der Arbeiterklasse mit den Umgangsformen der Gebildeten in Berührung: „Sie löffelten ihre Suppe nicht aus dem Henkelmann wie ihre proletarischen Brüder, sondern speisten mit den Kolleginnen in den großen Kantinen oder gar in den Speisegaststätten im Abonnement.“ Jähner fährt fort: „Zu Hause waren sie es, die den Eltern Behördenbriefe vorlasen und erläutern mussten.“

Doch der Autor weiß um die Ambivalenz der Phänomene. Emanzipierte junge Städterinnen im Büro sind die eine Seite der Medaille. Erste Bühnen für institutionalisierten Sexismus sind die andere. „Das Büroleben war animiert von Anziehungskräften und Aufstiegsträumen, aber auch vergiftet von zynischer Ausbeutung, Kalkül und Liebestragödien.“ Während die „Neue Frau“ als Mode- und Theoriephänomen eher in der bildungsbürgerlichen Schicht Eindruck machte (durch Frauen in schnittigen Automobilen wie Erika Mann, Clärenore Stinnes oder Maria Therese Hammerstein), nahm die Emanzipation der kleinen Büroangestellten den Weg durch die zahllosen Tanzlokale der Stadt. Hier pflegte man eine flotte Sohle und trug dazu den praktischen Bubikopf oder gleich eine Kurzhaarfrisur. Selbstverständlich verdoppelte sich auch das Tempo der Tanzschritte gegenüber der alten Zeit. Manch einer sah darin den Untergang der bürgerlichen Kultur.

Spannend ist Jähners Panorama einer Epoche immer auch dort, wo es unmittelbar auf unsere eigene Gegenwart zu passen scheint. Im Hin und Her zwischen Militarismus, Revolution und Revanchismus sowie einem schwierigen Versöhnungskurs unter einem merkelhaft uncharismatischen Reichpräsidenten Ebert zeigen sich Parallelen zu heute. „‚Nicht zu wissen, wohin man gehört‘, ‚nur so dahinzuleben‘ wurde zu einer Bürde angesichts der vielen Mitmenschen, die sich von grassierenden Erlösungsvisionen entzünden ließen“, schreibt Jähner und zitiert Siegfried Kracauers zaudernden Helden Georg im gleichnamigen Roman der Stunde.

Virtuos verzahnt Jähner im Folgenden die Sorgen der intellektuellen Melancholiker mit der Sozialphilosophie eines Helmuth Plessner, der in seinen 1924 erschienen „Grenzen der Gemeinschaft“ eine bis heute faszinierende Verhaltenslehre der anonymen Stadtgesellschaft entwarf. Darin ging es um den richtigen Abstand zwischen den Individuen. Nicht zu nah und nicht zu fern sollten sie sich durch den Großstadtrummel bewegen. Mit „Takt“ sah er die atomisierte Gesellschaft, die zum Ärger der rechten Kräfte keine Gemeinschaft mehr war, in eine schöne Pluralität hineinwachsen. Weswegen der liberale Gesellschaftsbegriff zum neuen Kampfbegriff der rechten Theoriebildung wurde. „In der Gemeinschaft definiert sich der Zusammenhalt über die Abstammung und über tradierte gemeinsame Werte, in der Gesellschaft durch Regeln im Miteinander von potenziell einander fremden Menschen.“ Harald Jähner zitiert hier den Kulturwissenschaftler Helmut Lethen mit dem fast schon aphoristischen Satz: „Wenn Verkehr zum zentralen Topos wird, geht es Wesen, die Wurzeln schlagen wollen, nicht gut.“

Auch diese Diagnose könnte man heute ohne Weiteres auf den aufgepeitschten Zeitgeist anwenden. Technikeuphorie und -dystopie, soziale Mobilität nach oben und Abstiegsdramen der Abgehängten, Sternstunden der Vernunft und das Geschwafel von Wirrköpfen gingen auch in der Weimarer Republik Hand in Hand. Wie die Sache ausgegangen ist, wissen wir, aber Harald Jähner erzählt es noch einmal auch denen, die den Geist des Liberalismus in die Einwegflasche zurückstopfen möchten, aus der er nie kam. Er ist, das zeigt dieses Buch, das Produkt einer ratternden und rotierenden Großstadtgesellschaft zwischen den Kriegen.
Buchcover Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen

Von Katharina Teutsch

​Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.