Schnelleinstieg: Zum Inhalt springenZur Hauptnavigation springenZur Sprachnavigation springen

Es stinkt zum Himmel

2021 gingen der Peter-Härtling-Preis und der Kinderbuchpreis „LUCHS des Jahres“ an einen erstaunlichen Debütroman, an „Krummer Hund“ von Juliane Pickel. Er erzählt von Daniel, dessen Leben ziemlich chaotisch ist; noch chaotischer allerdings ist sein Seelenleben. Denn Daniel trauert nicht nur um seinen toten Hund, sondern auch um den Vater, der einfach aus seinem Leben verschwand, als er zehn Jahre alt war. Außerdem leidet der Junge unter dem Gefühl, ein Nerd und Außenseiter zu sein. „Krummer Hund“, witzig, lakonisch und intelligent erzählt, ging unter die Haut. Gespannt wartete man darum auf den zweiten Jugendroman der Autorin, sein Titel: „Rattensommer“.

Er stinkt, dieser „irre heiße“ Sommer. Nach Ratten und Modder, aber auch nach verdrängten Traumata und Konflikten, die unter den Teppich gekehrt werden. Lou, die 15-jährige Ich-Erzählerin, hält es kaum noch aus: Der Tod ihrer ungeborenen älteren Schwester vergiftet auch nach vielen Trauerjahren noch das Familienklima und raubt dem Mädchen jede Möglichkeit zur eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Denn Lou darf nur die „kleine“ Ersatzausgabe der verstorbenen „ersten“ Louise sein und fühlt sich nicht wirklich wahrgenommen von ihren Eltern. Als dann noch ein Mann aus dem Gefängnis entlassen wird, der schuldig ist am Tod der Mutter von Lous Freundin Sonny, läuft einiges aus dem Ruder. Sonny will sich an ihm rächen und lässt sich darum mit ein paar miesen Typen ein...

Düstere Themen stehen im Hintergrund dieser Sommerferien-Geschichte. Im Vordergrund steht die tiefe Freundschaft zweier Mädchen, die bei äußerster Verschiedenheit in Aussehen und Charakter „zwei Hälften eines Ganzen“ bilden. Ihre innige Verbundenheit kommt ohne Worte aus, für Lou schlägt die unzertrennliche Freundschaft in diesem Sommer sogar in Verliebtheit um. Das ist verwirrend, bauchkribbelndes Glück und Katastrophe zugleich. Streit und Eifersucht sind vorprogrammiert, und nach schmerzlichen Einsichten und einem dramatischen Showdown gelingt es Lou, sich dann doch von Sonny freizuschwimmen.

Wobei das Motiv des Schwimmens eine wichtige Bedeutung hat. Lou kann nicht schwimmen – sowohl ganz wörtlich als auch im übertragenen Sinn, sie kann nicht locker-leicht und unbeschwert leben. Dahinter steht eine traumatische Erfahrung, die sie am Schluss überwinden muss. Nicht nur diese Szene ist ausgesprochen spannend, Spannung liegt über dem ganzen Roman. Auch durch die Frage, wie Sonnys Mutter umkam, ob und wie Sonny sich an dem „Täter“ rächen und wie die Freundschaft der Mädchen sich entwickeln wird. Dazu kommt eine sich permanent steigernde psychische Anspannung, eine flirrende Verunsicherung, die das ganze Geschehen vibrieren lässt.

Lou ist ein empfindsames und kluges Mädchen. War Daniel in „Krummer Hund“ ein eher salopper und schmissiger Erzähler, entwickelt Juliane Pickel in „Rattensommer“ für Lou noch einmal einen ganz eigenen Ton, der ihre Situation und ihren Charakter einfühlsam spiegelt. Ebenso leise wie ausdrucksstark schildert Lou ihre Ängste und Gefühle oder die hilflosen Strategien ihrer Eltern, vor ihrer Trauer zu flüchten. Intensiv, aber nie überladen, spröde und zugleich packend bebildert sie ihre Erzählung. Sätze „wie Pfeile in einem Bogen“ treffen ins Zentrum komplexer psychischer Zusammenhänge. Und mit einem Schuss Selbstironie verscheucht sie immer wieder jede Art von Pathos oder Sentimentalität.

Jugendliche wie Lou – oder Daniel – gibt es überall in Europa, ja überall auf der Welt. Junge Leute, die in einem psychisch oder sozial schwierigen Umfeld aufwachsen, die sich zwischen schmerzlichen und bestätigenden Erlebnissen ihren eigenen Weg suchen müssen. Wieder ist es Juliane Pickel gelungen, das komplizierte Leben Heranwachsender in einer spannenden, schlüssigen und dann auch befreienden Geschichte zu verdichten. Mit gelassener Selbstverständlichkeit hält sie Balance zwischen Schwerem und Leichtem, Melancholie und Erwartung. Ihre sinnlich-sensible Sprache und ihr unsentimentaler Ton werden für Übersetzer*innen eine beglückende Herausforderung sein. Und es wird sich zeigen: diese neue Stimme und dieser neue Ton können auch andere Sprachen und Literaturen bereichern!
Buchcover Rattensommer

Von Sylvia Schwab

​Sylvia Schwab ist Hörfunkjournalistin und hat sich auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert. Sie ist Jurorin bei den "Besten 7" von Deutschlandfunk und Focus und arbeitet für den Hessischen Rundfunk, den Deutschlandfunk und Deutschlandradio-Kultur.