Ulrike Edschmid Die letzte Patientin
- Suhrkamp Verlag
- Berlin 2024
- ISBN 978-3-518-43183-2
- 111 Seiten
- Verlagskontakt
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Polnische (2025 - 2027) an.
An den Bruchkanten der Geschichte
Genau so ist es auch in ihrem aktuellen Text „Die letzte Patientin“. Ein schmales, intensives Buch, nur 111 Seiten lang. Eine Biographie in Ausschnitten, eine Annäherung an ein Leben, vielleicht der Versuch, etwas festzuhalten. In dichter, klarer Prosa ohne wörtliche Rede, eindringlich, bewegend und unsentimental.
Edschmid berichtet von einer jungen Frau aus Luxemburg, die Anfang der 1970er Jahre in eine WG in Frankfurt einzieht, für die Ich-Erzählerin wird die neue Mitbewohnerin zur Freundin. Auch später bleiben sie in Kontakt, als „sie“, wie die namenlose Freundin genannt wird, auf Weltreise geht und danach in Barcelona als Traumatherapeutin arbeitet. Über 40 Jahre schreiben sie sich Briefe und besuchen sich, bis zum Tod der Freundin.
Wie in ihren anderen Büchern auch erzählt Ulrike Eschmid entlang der historischen Zeitläufte, an den Bruchkanten der Geschichte. Der politische Hintergrund schwingt mit, als Resonanzraum, auf dem sie ihre Geschichten aufbaut. So geht es bei ihrem Buch „Ein Mann, der fällt“ (2017) zwar vordergründig um die Querschnittslähmung ihres Partners nach einem Sturz von der Leiter und um die Verlangsamung des Alltags – gleichzeitig ist das Buch aber auch ein Porträt von Westberlin, wie es sich seit den 80er Jahren verändert, beobachtet aus einer Wohnung in einem Charlottenburger Eckhaus.
In „Die letzte Patientin“ blitzt immer wieder das hochpolitisierte Umfeld auf, in dem sich die Autorin eine Weile bewegte. Gleich im 2. Kapitel heißt es: „Als eines Nachts unsere Wohnung gestürmt wird, steht sie im geblümten Kindernachthemd aus Flanell vor bewaffneten Polizisten“, steht da, „mit ausgebreiteten Armen vor der Tür des Kinderzimmers, in dem mein Sohn schlief“.
In vielen Büchern Edschmids geht es um die Studentenbewegung, um Politisierungen und Radikalisierungen, z.B. in „Frau mit Waffe. Zwei Geschichten aus terroristischen Zeiten“ (1996), in dem sie das Leben der Aktivistinnen Astrid Proll und Katharina de Fries nachzeichnet. Oder in „Das Verschwinden des Philip S.“ (2013) – eine Annäherung an ihren zeitweiligen Lebensgefährten Philip Sauber, der sich der linksextremen „Bewegung 2. Juni" anschloss und 1975 bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben kam.
Die Biographien, die Eschmid in ihren Büchern auffaltet, haben oft etwas Exemplarisches. Der Werdegang der Freundin hätte eine Generation vorher so vermutlich nicht stattfinden können: keine Ehe, keine feste Partnerschaft, keine Kinder, lange keinen Beruf, alleine auf Weltreise. Eine Frau, die mit ihrer Geschichte für eine ganze Generation von Frauen steht, die sich auf einmal anders in der Welt bewegen konnten.
Die Ich-Erzählerin bleibt dabei im Hintergrund, sie ist nur die Berichtende. Nimmt die Briefe der Freundin zur Hand und erzählt von deren langer Reise durch Südamerika und die USA. Da ist innerer Aufruhr, Schwermut und Unruhe. Etwas tobt in der Freundin, eine Bürde aus der Vergangenheit, die Erwartungen der Eltern. Als Getriebene reist sie durch Guatemala, Honduras, Nicaragua, Brasilien, Costa Rica, Panama, Kolumbien. Eine mutige Frau, die alleine trampt, vergewaltigt wird, weiterreist. Sie sucht Rast bei Männern, doch die Beziehungen scheitern, immer wieder.
Im zweiten Teil des Buches wird die Freundin sesshaft, wird Therapeutin. Eine junge Frau kommt als Patientin zu ihr, schwer traumatisiert. Aber sie spricht nicht. Jahrelang sitzt sie jede Woche bei der Therapeutin und schweigt. Die Therapeutin möchte sie loswerden, zu belastend ist das bleierne Schweigen, sie ist selbst müde, kämpft gegen den Krebs. Doch irgendwann sind die Biographien dieser beiden Frauen so sehr ineinander verwoben, dass sie sich nicht mehr trennen lassen. Die Frage, wer Therapeutin und wer Patientin ist, stellt sich nicht mehr. Was als professionelle Verbindung begann, wird privat, wird Familie.
Ulrike Edschmid umkreist wichtige Fragen: Was bleibt von einer Biographie, wer hält die eindrücklichsten Geschichten fest, wenn man es selbst nicht tut? Was ist ein gelungenes Leben, was ist Familie? Wie nah kann man anderen kommen? Und wie findet man eine Sprache für ein Trauma? Ein schmales, gewichtiges Buch, das lange nachhallt.

Von Anne-Dore Krohn
Anne-Dore Krohn ist Literaturredakteurin beim rbb (Rundfunk Berlin-Brandenburg). Sie war und ist Mitglied in zahlreichen Jurys und moderiert regelmäßig Lesungen.
Inhaltsangabe des Verlags
Rauchend saß sie am Küchentisch, und ein »lasziver Lebensüberdruss, wie man ihn aus Filmen der Nouvelle Vague kennt« umgab sie. Sie studierte Geschichte und Französisch. Als sie sich in einen spanischen Anarchisten verliebte, folgte sie ihm nach Barcelona.
Nach jahrelangen Reisen durch die halbe Welt und unzähligen »verzweifelten Liebesversuchen«, wendet sie sich der Traumaforschung zu. Eines Tages kommt eine junge Frau zu ihr in die Praxis, die nicht spricht. Erst nach Jahren werden die ersten Wörter aus ihr herausbrechen. Ist sie Opfer eines realen oder eines eingebildeten Verbrechens? Fest steht: diese Patientin wird ihr, der inzwischen an Krebs erkrankten Therapeutin, die Liebe geben, die sie an keinem Ort der Welt hatte finden können.
Die Erzählerin zeichnet das Leben einer Frau nach, die 1973 in ihre Frankfurter WG kam. Lebenshunger und Reiselust, die Grenzen des therapeutischen Berufs, die Ungewissheit, das Gegenüber jemals zu begreifen – Ulrike Edschmid erzählt diese berührende, verstörende, am Ende tröstliche Geschichte, wie wir es von ihr kennen, lapidar, mit Aussparungen, dicht und leichthändig zugleich.
(Text: Suhrkamp Verlag)