Laura Wiesböck Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend
- Paul Zsolnay Verlag
- Wien 2025
- ISBN 978-3-552-07542-9
- 176 Seiten
- Verlagskontakt
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Polnische (2025 - 2027) an.
Der digitale Hype um Mental Health
Ein Kennzeichen des „Healthism“ ist die stolze Präsentation der eigenen Krankheit, vor allem die der interessanten Krankheit. Depressionen können romantisch sein, wenn „sad girls“ sie im Netz inszenieren. ADHS erklärt und entschuldigt auffälliges Verhalten von jungen Männern, die sich für besonders intelligent halten. Auch ohne klinischen Befund dürfen die digitalen Kranken auf Zuspruch seitens der Netzgemeinde rechnen. Die soziale Anerkennung ersetzt auf diese Weise die ärztliche Diagnose. Vor allem psychische Krankheiten junger Menschen haben gute Chancen auf dem Marktplatz digitaler Aufmerksamkeit. Während die Expertise tatsächlicher Fachleute in den Hintergrund rückt, ist die „Erfahrungsexpertise“ von Patient*innen und Follower*innen auf dem Vormarsch. Eine ADHS-Influencerin etwa spricht zu ihrer Kundschaft ohne ärztliche Autorität, dafür mit einer doppelten Dosis Empathie.
Wiesböck zeigt am hochkritischen Thema Krankheit/Gesundheit, wie digitale Kommunikation heute insgesamt funktioniert. Sie mag hier und da noch faktenbasiert sein, ihre eigentlichen Treiber aber sind werbliche Bilder und „Narrative“. Die diagnostische Gefühlskultur, die sich derzeit im Netz ausbreitet, zeigt starke Symptome geistiger Unreife (um hier ebenfalls eine Laien-Diagnose zu stellen). Das betrifft den Umgang mit Krankheit und Leid ebenso wie den Kult um die eigene Schönheit, die Kommerzialisierung von „care“ und „healing“. Eine ärztliche Therapie wäre nötig, aber die Erkrankten lassen sich lieber von ihresgleichen therapieren. Wie konnte es soweit kommen? Den Hauptschuldigen macht Wiesböck im „Neoliberalismus“ aus, womit ein Problem ihres ansonsten höchst lehrreichen Buches benannt ist. Neoliberalismus, damit meint die Autorin, wohl im Anschluss an Foucault, eine bestimmte liberal-kapitalistische Herrschaftsform, die uns Selbst-Techniken auferlegt, wie den Zwang zur Selbstoptimierung und zum „unternehmerischen Selbst“. Wir regieren uns selbst und falsch, weil der Neoliberalismus es so will, so etwa muss man Wiesböck verstehen. Wer aber fordert von wem tatsächlich die Unterwerfung unter den digitalen Gesundheitswahn? Sind es nicht vielleicht die Kund*innen selbst, die nicht von den Apparaten lassen können? Und sind es nicht die Tech-Unternehmen, deren Geschäftsmodell auf dem Begehren dieser Kundschaft beruht, werbliche Bilder von sich selbst zu kommunizieren?
Bei Wiesböck kann man den Eindruck gewinnen, es seien die Staaten und Regierungen selbst, die ihren Bürger*innen ein neoliberales Anforderungspaket mit auf den Weg gäben. Egal, ob nun Leistung, Verantwortung, Wettbewerb oder Unternehmertum, für Wiesböck sind dies gesellschaftliche Imperative, die zwangsläufig die digitalen Nutzer*innen in die Krise treiben. Dass niemand gezwungen ist, auf seinem Smartphone dem „Healthismus“ zu verfallen, beirrt die Autorin nicht. Stattdessen hält sie am Ende ihres Buches ein „Plädoyer für zwischenmenschliche Ambivalenz und Trost“. Das ist gut und richtig, aber es muss auch Wirtschaftszweige geben dürfen, die nicht vom Sorge-Gedanken geleitet sind. Wiesböcks Gesellschaftsanalyse kann in einigen Punkten durchaus hinterfragt werden, aber das nimmt ihrer Kritik an digitalen Fehldiagnosen nichts von ihrer Berechtigung und gesellschaftlichen Bedeutung.

Von Christoph Bartmann
Christoph Bartmann war Leiter der Goethe-Institute in Kopenhagen, New York und Warschau und lebt heute als freier Autor und Kritiker in Hamburg.
Inhaltsangabe des Verlags
Trauma, triggern, toxisch: Laura Wiesböck über die inflationäre Verwendung psychologischer Begriffe in Sozialen Netzwerken und über den Social-Media-Trend »Mental Health«
Lebenskrisen, emotionale Verletzungen und Phasen der Ineffizienz sind seit jeher Teil des Menschseins. Doch im digitalen Zeitalter zeigt sich eine immer größere Entschlossenheit, derartige Zustände krankhaft zu deuten. Social-Media-Plattformen sind voll mit psychiatrischen Diagnosen. Begriffe wie »Trauma«, »triggern« und »toxisch« werden inflationär verwendet. Eigen- und Fremddiagnosen gehen leicht von den Lippen. Wo aber liegt die Grenze zwischen Enttabuisierung und Verherrlichung? Präzise analysiert die Soziologin Laura Wiesböck die Ursachen und Folgen des Trends um »Mental Health«. Ein zeitgemäßes Buch und ein Plädoyer für das Aushalten emotionaler Ambivalenzen.
(Text: Paul Zsolnay Verlag)