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Buchcover Einsamkeit und Sex und Mitleid

Helmut Krausser Einsamkeit und Sex und Mitleid

Helmut Krausser
Einsamkeit und Sex und Mitleid

Dieses Buch wurde vorgestellt im Rahmen des Schwerpunkts Spanisch: Argentinien (2009 - 2011).

Buchbesprechung

Helmut Krausser ist ein Autor, der im deutschen Literaturbetrieb ebenso umstritten wie erfolgreich ist. Nicht wenige der Diskussionen um sein Werk dürften im Zusammenhang mit den polternden Auftritten des Autors stehen, der sich gerne als verkanntes Genie in Szene setzt. „Liebe, Mythos, Tod – ich liebe es, das Große in unsere Zeit hineinzutragen“, so beschreibt Krausser die Grundzüge seiner Poetik. Davon ist in seinem neuen Buch auf den ersten Blick nichts zu erkennen. Einsamkeit und Sex und Mitleid ist ein Episodenroman, in dem Szenen aus dem alltäglichen Leben der Protagonisten herausgegriffen werden. In kurzen Abschnitten werden diese schlaglichtartig beleuchtet:

Der Callboy Vincent überrascht eine verwahrloste, aber unerwartet attraktive Einbrecherin in seiner Wohnung. Ekki, pensionierter Lateinlehrer, versüßt der Kellnerin seiner Stammkneipe mit lustvollen Erzählungen aus dem alten Rom die Nacht. Der junge Araber Mahmud macht der pubertierenden Swentja unverhohlen ein unmoralisches Angebot, das beide näher zusammenbringt, als sie es für möglich gehalten hätten. Etwa 15 Personen versammelt der Autor in seinem Buch, die alle in Berlin leben. An einzelnen Stellen des Romans kreuzen sich ihre Lebenswege. So webt Krausser mit erzählerischer Vielfalt und dramaturgischem Geschick nach und nach ein zusammenhängendes Netz aus den Lebensgeschichten seiner Figuren. Es ergibt sich eine Momentaufnahme, ein schillerndes Panorama der Stadt Berlin und der Bundesrepublik Deutschland.

Eine Figur des Romans ist Uwe König. Er ist Marktleiter in einer Karstadt-Filiale. Den Heiligen Abend verbringt er wie jedes Jahr mit seiner Frau Julia zu Hause, bis diese ihm kühl eröffnet, dass sie sich von ihm trennen wird. Schnitt, Szenenwechsel. Am gleichen Weihnachtsabend sitzt der ehemalige Lateinlehrer Ekkehard Nölten in seinem Stammlokal und möchte nicht nach Hause gehen. Seit seiner Pensionierung ist er einsam, Gedanken daran, wie Verleumdungen einer Schülerin sein Ausscheiden aus dem Schuldienst bewirkt hatten, machen ihm zu schaffen. Um nicht nach Hause gehen zu müssen, beginnt er eine Unterhaltung mit der netten Kellnerin Minnie und bleibt, bis die Kneipe schließt.

Swentja ist Schülerin, 15 Jahre alt. Als sie eines Tages von einem jungen Araber auf der Straße angesprochen wird, der ihr anbietet, ihr 100 Euro für Oralverkehr zu zahlen, ist sie empört und gleichzeitig neugierig. Sie lehnt fürs Erste ab, lässt sich aber Mahmuds Nummer geben, obwohl sie seit kurzem einen Freund namens Johnny hat. Der ist Pfarrerssohn, erfüllt vom Glauben an Gott und fest davon überzeugt, dass Swentja, die er als seine zukünftige Frau sieht, wieder zu ihm zurückfinden wird. Swentja hingegen hat längst genug von ihrem bibeltreuen Freund und findet Mahmud viel aufregender. Johnny kämpft um Swentja und hadert zugleich mit sich und seinem Glauben.

Janine ist siebenundreißig, Tänzerin. Sie blickt auf eine Karriere als Primaballerina zurück, die sie aufgrund eines Epilepsieleidens beenden musste. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitet sie als Tanzlehrerin. Über das Internet arrangiert sie ein Blinddate mit einem Mann, das erfolgreich verläuft. Für eine dauerhafte Beziehung findet sie ihn jedoch zu konventionell. Besonders gelangweilt hat sie die Geschichte, die ihr Uwe König beim gemeinsamen Essen über seine Arbeit in der Karstadt-Filiale erzählt hat. In ihr ging es um einen älteren Herrn, der sich als Ekkehard Nölten vorgestellt und sich unverhältnismäßig laut über das Angebot der Lebensmittelabteilung beschwert hatte.

Dieses Überraschungsmoment, eine bereits eingeführte Figur unverhofft aus der Perspektive einer anderen zu präsentieren, erweist sich als ein zentrales strukturierendes Verfahren des Romans. Dem Leser begegnet jede Figur mindestens ein weiteres Mal, wodurch im Laufe des Romans ein komplexes Beziehungsgeflecht entsteht. So stellt sich beispielsweise heraus, dass es sich bei der Schülerin, deren Verleumdungen der pensionierte Lehrer Ekkehard zu Beginn der Geschichte beklagt, um Swentja handelt. Dieser Effekt des Wiedererkennens weist nicht nur über die einzelnen erzählten Szenen hinaus, sondern verleiht den Protagonisten darüber hinaus Schärfe und Kontur.

Ohnehin setzt der Erzähler ganz auf die Wirkungskraft seiner Figuren. So verzichtet er größtenteils auf distanzierende Reflexionen und lässt die Protagonisten stattdessen selbst sprechen. Dies geschieht, indem er aus deren Innenperspektive erzählt und den Dialogen viel Raum lässt. Dementsprechend wirkt die Sprache des Romans direkt und vielfältig – jeder in diesem Buch, so das erzählerische Kalkül, redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Dennoch werden die Figuren nicht nur in ihrer Individualität gezeigt, sondern jeweils auch eingebunden in ein soziales Umfeld, in dem sie leben und das ihr Handeln beeinflusst. Es fällt auf, dass die Protagonisten aus allen Altersklassen und sozialen Schichten stammen. Ur-Berliner sind ebenso vertreten wie Migranten, Frauen wie Männer, Jugendliche wie Senioren, Promovierte wie Prekäre. Es ist ein repräsentativer Querschnitt, der hier vorgeführt wird. Doch repräsentativ wofür? Zum einen sicherlich für Berlin, dessen vielfältiges Stadtbild die Kulisse für den Roman liefert. Doch nimmt man den Titel des Romans ernst, handelt es sich nicht nur um das Panorama einer Stadt, sondern um ein Stimmungsbild der deutschen Nation. „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ anstatt „Einigkeit und Recht und Freiheit“ – diese Anspielung auf die deutsche Nationalhymne, die im Titel mitschwingt, legt nahe, dass hier zugleich der Zustand der deutschen Nation verhandelt wird.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es Krausser auch diesmal um „Liebe, Tod und Mythos“ geht, wenngleich das erst bei genauerem Hinsehen deutlich wird. Denn obgleich jeder der Protagonisten in Einsamkeit und Sex und Mitleid nach Zweisamkeit sucht, kommt das Wort „Liebe“ im Titel gerade nicht vor. Ebenso bleibt auch in der Suche der Protagonisten unklar, was das eigentlich ist: die Liebe.

Julia König beendet ihre Ehe zu Uwe, weil der nie genügend Wert auf seinen beruflichen Aufstieg gelegt hat, und bestellt sich zur sexuellen Befriedigung innerhalb ihres straffen Zeitplans den Callboy Vincent. Ihr Noch-Ehemann Uwe schläft unverbindlich mit der Tänzerin Janine, um sich von der Trennung von Julia abzulenken. Ekki fühlt sich einsam und sucht zögerlich Trost bei Minnie. Der Punk Holger vergewaltigt Sibylle in deren Schlafsack und schwört ihr am nächsten Tag ewige Treue. Finden die Figuren in ihren vielfältigen Beziehungen also das, was sie ersehnen? Sie alle ringen mit der Einsamkeit. Die Liebe jedoch erscheint als Leerstelle, die von den Geschichten des Romans umkreist wird. In der Figur des Jugendlichen Johnny, der mit seinem Glauben an Gott hadert, gewinnt sie ihre transzendentale Dimension.

So stellt Krausser die alltäglichen Liebes-Mühen in einen größeren Zusammenhang. Die kleinen Sorgen und Beobachtungen seiner Figuren werden zum Sinnbild für die Suche nach dem Glück. Die Frage, ob mit dieser Suche eine zeitkritische Diagnose der Bundesrepublik Deutschland verbunden ist, wird im Roman offen genug gestellt, dass jeder Leser seine eigene Antwort auf sie geben kann. Die Schlusspassage des Buches gibt jedenfalls Anlass zur Hoffnung: „Ümal packte das blanke Entsetzen [...], doch dann, während er die Straße hinunterrannte, spürte er weder Wut noch Enttäuschung, im Gegenteil. Er konnte es sich nicht erklären. Ihm war, als berühre gerade der Finger einer bedingungslosen, umfassenden Liebe alle Dinge, Tiere und Menschen dieser Welt.“

Von Eva Kaufmann