Jessica Lind Kleine Monster
- Hanser Berlin
- Berlin 2024
- ISBN 978-3-446-28144-8
- 256 Seiten
- Verlagskontakt
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Polnische (2025 - 2027) an.
Die Familie als ewige Konkurrenz
Die Österreicherin Jessica Lind, Jahrgang 1988, erzeugt in ihrem zweiten Roman geschickt eine ambivalente Atmosphäre. In ihrem doppelbödigen und raffiniert gebauten Text vermischen sich das Gefühl einer vermeintlich blinden Mutterliebe mit einem Schuldkomplex, der aus Pias früher Kindheit herrührt. Denkt man zunächst, dass Jessica Lind bloß einen weiteren Versuch unternehmen könnte, das Zeitgeistthema „Regretting Motherhood“ einem Roman überzustülpen, zeigt sich bald, dass es Lind um etwas Anderes geht. Der zweite Handlungsstrang des Romans erzählt von Pias Aufwachsen und von ihrem Verhältnis zu den eigenen Eltern. Pia war die älteste von drei Schwestern. Romi, die mittlere Schwester, kam als Adoptivkind in die Familie und versuchte seit der frühen Kindheit ihren eigenen Weg zu gehen. Linda, die jüngste Schwester, der Pias Sohn Luca verblüffend ähnlich sieht, ist im Alter von vier Jahren in einem See in der Nähe ihres Elternhauses ertrunken. Pia lag zu diesem Zeitpunkt krank im Bett; Romi hat, so wird es erzählt, noch versucht, die Schwester zu retten.
Dieser tragische Unfall ist das heimliche, traumatische Zentrum des Romans. Er bestimmt Pias Blick auf Erziehung, Partnerschaft und ein Familiengefüge, das nach dem Tod der Schwester zu implodieren drohte. Die Eltern wurden hart, peinigten die Kinder, vor allem Romi, so lange mit Strafen, ellenlangen Verbotslisten und Züchtigungen, bis Romi sich lossagte und das Haus verließ. Jessica Lind hat an der Wiener Filmakademie Drehbuch studiert und hat ein Gespür für den Aufbau von Szenen und Dialogen. Sei es in Pias Kommunikation mit ihrer Mutter, sei es in der Auslotung ihrer Beziehung zu Jakob oder auch im Umgang mit ihrem Sohn Luca – Lind inszeniert die Institution Familie als eine permanente Konkurrenzsituation. Als ein Buhlen um Zuwendung, Aufmerksamkeit, Zeit und Status. In dieser Situation beginnt Pia, ihre Kindheitserfahrungen neu zu bewerten. Linds Geschichte lässt sich auch als Entwicklungsroman lesen; als einen langsamen Prozess der Distanzierung, der gleichermaßen zu Befreiung wie auch zu Erkenntnis führt.
Es sind diese Erfahrungswege, die „Kleine Monster“ über eine rein privatistische Geschichte heraus ins Allgemeingültige heben. Der Roman wirft auch die Frage auf, inwieweit Generationen fair und gerecht übereinander urteilen. Das Geschehen bekommen wir ausschließlich durch den Filter von Pias Weltsicht präsentiert. Eine Weltsicht, in der durchaus auch finstere, zerstörerische Tendenzen Platz haben. Auf engem Raum von rund 250 Seiten ist „Kleine Monster“ ein an der Oberfläche eher distanziert-kühler Text, in dem sich immer wieder Falltüren ins Unheimliche öffnen.

Von Christoph Schröder
Christoph Schröder, Jahrgang 1973, arbeitet als freier Autor und Kritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.
Inhaltsangabe des Verlags
Ein feinsinniger Pageturner
Ein soghafter Roman über die zerstörerische Kraft des Ungesagten.
Pia und Jakob sitzen im Klassenzimmer der 2B, ihnen gegenüber die Lehrerin ihres Sohnes. Es habe einen Vorfall gegeben, mit einem Mädchen. Pia kann zunächst nicht glauben, was ihrem siebenjährigen Kind da vorgeworfen wird. Denn Luca ist ein guter Junge, klug und sensibel. Sein Vater hat daran keinen Zweifel. Aber Pia kennt die Abgründe, die auch in Kindern schlummern, das Misstrauen der anderen erinnert sie an ihre eigene Kindheit. Sie lässt ihren Sohn nicht mehr aus den Augen und sieht einen Menschen, der ihr von Tag zu Tag fremder wird. Bei dem Versuch, ihre Familie zu schützen, wird Pia schließlich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Ein fesselndes psychologisches Drama über die Illusion einer heilen Kindheit.
(Text: Hanser Berlin)