Bodo Kirchhoff Verlangen und Melancholie
- Frankfurter Verlagsanstalt
- Frankfurt am Main 2014
- ISBN 9783627002091
- 448 Seiten
- Verlagskontakt
Bodo Kirchhoff
Verlangen und Melancholie
Verdrängungsvirtuose auf Wahrheitssuche – Bodo Kirchhoffs vielschichtiger Roman "Verlangen und Melancholie"
Das zeigt vor allem sein jüngstes Epos „Verlangen und Melancholie“, in dem er für die Themen, die er seit seinen Anfängen immer wieder umkreist hat – Eros und Tod, Begehren und Verlust, Täuschung und Wahrheit –, einen neuen, vielschichtigen und vitalen, dabei sprachlich unprätentiösen Erzählmodus findet. Zugleich zeichnet der Autor, der sich in den Achtzigerjahren von deutschen Schauplätzen und Gegenständen verabschiedet und seine Stoffe fortan auf Weltreisen oder bei Auslandsaufenthalten gesucht hatte, in dieser Liebes- und Enthüllungsgeschichte ein scharfes Bild deutscher Gegenwart, gespiegelt in Zustandsskizzen aus Kirchhoffs Heimatstadt Frankfurt, wo die Schließung einer Woolworth-Filiale heute schon ein Stück Heimatverlust bedeutet. Und er entwirft ein subtiles Porträt der westdeutschen Intellektuellengeneration, der er selbst angehört, mit ihren Eitelkeiten, ihren Beziehungsproblemen und ihrer unheilbaren Italien-Sehnsucht.
Hinrich, Regionalkultur-Redakteur im Ruhestand, hat vor fast zehn Jahren seine Frau Irene verloren: Sie beging Selbstmord, indem sie vom Goetheturm sprang, einer 43 Meter hohen Holzkonstruktion im Frankfurter Stadtwald. Der Witwer lebt und überlebt in einem Hochhaus, dem städtebaulichen Symbol der ungeliebten Nachkriegsmoderne, für ihn ein „Raumschiff der Trauer“. Er tröstet sich mit Tierfilmen, gibt seinem Enkel Abiturnachhilfe und jobbt als Wärter in der Pompeji-Ausstellung, die seine Tochter kuratiert hat. Dabei wird er unablässig heimgesucht von Erinnerungen und bedrängt von der unbeantworteten Frage nach dem Grund für Irenes Freitod. Denn der wortreiche Rückblick auf die gemeinsame Zeit, die von glücklichen Reise-Erlebnissen, vor allem in Italien, und intensiven erotischen Momenten überstrahlt war, lässt zwar – das ist Kirchhoffs Kunstgriff – den Leser, nicht aber den Ich-Erzähler erkennen, wie wenig man voneinander wusste.
Um den Verdrängungsvirtuosen Hinrich auf die Spur der Wahrheitsfindung zu setzen, bedarf es einiger Umwege: Weil er das Schwarzgeld, das er mit dem Enkel auf abenteuerlichen Wegen über die Schweizer Grenze geschmuggelt hat, seiner polnischen Ex-Geliebten schenken will, reist er nach Warschau und trifft dort einen alten Freund und Kollegen, der ihn über Irenes Doppelleben und die Ursache ihrer Verzweiflung aufklärt. Dass dieser Jerzy Tannenbaum der Nachkomme deportierter Juden ist, verleiht der Geschichte eine zusätzliche Dimension, die Kirchhoff ebenso glaubwürdig in die Handlung integriert wie jenen geheimnisvollen Brief mit Trauerrand, den Hinrich lange ungeöffnet mit sich herumträgt und der die Nachricht vom Tod seines Sohnes enthält, von dessen Existenz er bis dahin nichts ahnte.
Noch immer spielt der Autor gern mit Kolportage-Elementen, aber hier verwebt er sie so beiläufig wie stimmig mit den Trugbildern und Selbsttäuschungen seines Protagonisten. Sympathisch wird uns Hinrich erst am Ende, als er sich auf einer Erinnerungsreise nach Pompeji mit einem streunenden Hund anfreundet: Hier gewinnt der Begriff „Liebe“ plötzlich eine Bedeutung, vor der alle Erotik-Darstellungen in den pompejanischen Villen verblassen – zweifellos einer der schönsten Romanschlüsse der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Von Kristina Maidt-Zinke
Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.
Inhaltsangabe des Verlags
Hinrich, dem ein "e" zum eleganteren Heinrich fehlt, findet an einem sonnigen Maitag einen Brief mit schwarzem Rand in seinem Briefkasten. Wer mag da gestorben sein? Hinrich wagt nicht, den Umschlag zu öffnen. Seit seine Frau vor neun Jahren bei einem Sturz aus 43 Metern Höhe ums Leben gekommen ist, lebt er allein. Seine Zeit als Kulturkorrespondent bei einer großen Frankfurter Zeitung liegt hinter ihm. Und so gehören seine Tage den Erinnerungen an Irene, der geliebten Mutter seiner Tochter Naomi, der Übersetzerin anspruchsvoller italienischer Literatur. Da gab es die gemeinsamen Sommer in Italien, ihre Reisen nach Pompeji, wo sie vor den berühmten Fresken der Villa dei Misteri stundenlang stehenbleiben konnten, um deren Bedeutung zu enträtseln. Und ihre Liebe zum Kino; sie mochten das Schwermütige der Schwarzweißbilder, aber ließen sich auch verführen von etwas Leichtem. Doch was geschah wirklich vor neun Jahren, vor ihrem Sturz? Und was steht in diesem Brief mit dem schwarzen Rand? Aufklärung bringt erst eine Reise nach Warschau, wo Hinrich sowohl das Leben mit Irene als auch die Zeit mit einer früheren Geliebten in einer Weise einholt, die alles auf den Kopf stellt, woran er geglaubt hat.
"Verlangen und Melancholie", der neue große Roman von Bodo Kirchhoff, ist ein mit einer hintergründigen Spannung geladener Roman, der den Leser mitnimmt auf eine Spurensuche, bei der langsam, aber unerbittlich die Aufdeckung des großen „Warum“ geschieht und der Held die Wahrheit über den Tod seiner Frau erkennt. Bodo Kirchhoff erzählt dabei auch von einem Älterwerden, ohne dass die Wünsche mitaltern, von einem ewig jungen Verlangen und einer letztlich hilfreichen Melancholie.
(Text: Frankfurter Verlagsanstalt)