Schnelleinstieg: Direkt zum Inhalt springen (Alt 1)Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)Direkt zur Sekundärnavigation springen (Alt 3)

BÜCHERWELT
Geschichte, Heimat, Arbeitswelten

Aktuelle Literatur
Foto: (c) Goethe-Institut

Die deutschsprachige Literatur der Gegenwart hat sich in den vergangenen Jahren als ungemein heterogen, vielfältig und in ihrem Themenspektrum breit angelegt präsentiert. Einige Schwerpunkte zeichnen sich dennoch klar ab.

„Welthaltigkeit“, „Gegenwartsnähe“, „Dringlichkeit“ – das sind floskelhafte Forderungen, die immer wieder von verschiedenen Seiten an die Literatur und an die Autoren herangetragen werden und die in ihrem Kern dogmatisch und freiheitsbeschneidend sind. Wenn Literatur sich der Gegenwart, ihren Zwängen, Neurosen, Psychopatholgien und deren Ursachen annähern will, muss sie ihre eigenen Wege finden. Man hat die freie Wahl. Und doch lassen sich, unter dem Eingeständnis, dass man damit viele interessante und wild wuchernde Autorenexistenzen ausklammert, Strömungen und Tendenzen erkennen, die sich in den vergangenen Jahren verstärkt haben.

Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte

Die literarische Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, sei es der Nationalsozialismus oder die DDR, ist nach wie vor ein zentrales Anliegen vieler Autoren, wobei es keine Rolle spielt, welcher Generation sie angehören. Julia Franck beispielsweise, Jahrgang 1970, erzählt in ihrem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten und zum Bestseller avancierten Roman „Die Mittagsfrau“ die Geschichte einer Frau vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Wirren der Nachkriegszeit hinein. Der Studierte Historiker Per Leo wiederum, geboren 1972, erforscht in seinem Roman „Flut und Boden“ die Geschichte der eigenen Familie, vor allem die seines Großvaters, der als SS-Sturmbannführer im Rasse- und Siedlungshauptamt beschäftigt war.
 
Auf ganz unterschiedliche Weise verarbeiten Autorinnen wie Monika Maron, Angelika Klüssendorf oder Judith Schalansky ihre Erfahrungen mit dem untergegangenen ostdeutschen Staat: Während Monika Maron in „Zwischenspiel“ die Frage nach moralischem Handeln in der Diktatur stellt, beschreibt Angelika Klüssendorf in „April“ auf beklemmende Weise das Aufwachsen in einem dunklen Land namens DDR. Judith Schalansky wiederum denkt sich in „Der Hals der Giraffe“ in eine alternde ostdeutsche Lehrerein hinein, der die äußeren, sinngebenden Strukturen weggebrochen sind und die mühsam ihre innere Ordnung aufrecht zu erhalten versucht. Lutz Seiler schließlich, Buchpreis-Gewinner im Jahr 2014, inszeniert in sprachlicher Verdichtung das Ende der DDR auf der kleinen Ostseeinsel Hiddensee, die für viele DDR-Bürger der Ausgangspunkt eines nicht selten tödlich endenden Fluchtversuches war. Aus anderer Perspektive, aus der westdeutschen nämlich, betrachten Ricarda Junge und Jochen Schimmang ihr Land: In Romanen wie „Die letzten warmen Tage“ oder „Das Beste, was wir hatten“ richten sie den Blick auf die Tatsache, dass auch eine ganze Generation von Westdeutschen mit dem Ende der alten Bundesrepublik ihre geistige Heimat verloren haben.

Heimat und Multikulturalität

Der Heimatbegriff spielt in vielerlei Hinsicht auch eine Rolle in den Werken jener Autoren mit so genanntem Migrationshintergrund. Schriftsteller also, deren Wurzeln nicht in Deutschland liegen, aber in deutscher Sprache schreiben und für sich beanspruchen können, den Blick geweitet zu haben für Erfahrungen außerhalb des deutschen Alltags: Ilija Trojanows Roman „Der Weltensammler“ ist ein Beispiel dafür; Feridun Zaimoglu ist mit seinen zahlreichen Romanen mittlerweile zu einem der anerkanntesten und auch meistdekorierten Schriftstellern in Deutschland avanciert. Zuletzt veröffentlichte er „Siebentürmeviertel“, einen Roman, der das kulturelle Neben- und Durcheinander im Istanbul der 30er-Jahre wiederauferstehen lässt. Und auch der in Berlin geborene Deutsch-Iraker Sherko Fatah stellt in seinen Büchern immer wieder Zusammenhänge her zwischen den islamischen Gotteskriegern und Europa.

Neue Arbeitsstrukturen / Utopien und Dystopien

Doch die Welt wird nicht nur politisch zusehends unübersichtlicher, auch die Mikrostrukturen von Arbeit und Privatleben haben sich im Zuge der Globalisierung tiefgreifend verändert. Erzählungen dessen, wie sich das Individuum in einer Arbeitswelt verirren kann, deren Vokabular ganz bewusst weichgespült wird, während sich dahinter der knallharte Markt verbirgt, haben beispielsweise Thomas von Steinaecker in „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen“, Thomas Melle in „Sickster“ oder auch Terézia Mora in „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und dem Nachfolgeroman „Das Ungeheuer“ verfasst. Als eine mögliche Gegenbewegung dazu ist auffällig, dass gerade junge Autorinnen und Autoren sich an den Entwürfen neuer gesellschaftlicher Utopien versuchen, die stets in einer Kippbewegung sehr schnell in Dystopien umschlagen können. Genannt seien hier Leif Randts „Schimmernder Dunst über Coby County“ oder Franz Friedrichs „Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr“.
 
Allein diese wenigen Beispiele zeigen: Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur lebt. Sie nimmt sich dringlicher Themen an. Und findet, abseits journalistischer Berichtszwänge, originelle Möglichkeiten, diese Themen darzustellen.

Autor

Christoph Schröder lebt als freier Autor und Kritiker in Frankfurt am Main und arbeitet unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und den Deutschlandfunk. Zudem ist er Dozent für Literaturkritik an der Goethe-Universität Frankfurt.